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Auf dem Natur-Trip, NZZaS 03.08.2014

Verfasst: So 3. Aug 2014, 17:16
von synapse
Für interessierte nachfolgend ein Artikel aus der heutigen NZZ am Sonntag:
Auf dem Natur-Trip

Die einen tragen Kopfhörer, weil ihnen im LSD-Rausch der Wald zu laut tönt. Andere klagen über die Stromleitungen, die den Fluss der kosmischen Energien stören. Doch mehr «Love, Peace and Happiness» hat die Welt kaum im Programm. An einer Goa-Party in Filisur, der Öko-Version der Street Parade. Von Vanessa Sadecky und Ueli Christoffel (Fotos)

Sie drücken sich einem schon im Regio-Express bei Tiefencastel in die Ohren, die wummernden Bässe des Goa-Festivals One Love, die hundert Meter unter dem Zug die Bergwände beschallen.

Es ist Tag drei des Open Airs. Der Taxifahrer, der die neuen Besucher an diesem verhangenen Morgen vom Bahnhof Filisur aufs Gelände bringt, kann dem Spektakel gerade nichts Positives abgewinnen. «Ich bin halt mit meinem Shuttle eingesprungen, weil die Veranstalter den Ansturm nicht bewältigen konnten», meint er grimmig. Irgendwie unverständlich, hätte er doch an diesen Tagen sonst kaum so viele Kunden gehabt.

Den Planungsmangel nehmen die Besucher gelassen. Hauptsache, sie kommen irgendwie und irgendwann aufs Gelände. «An einem anderen Open Air würde das totale Chaos ausbrechen. Die Goas hingegen sind friedliche Leute und lassen sich nicht stressen», erzählt Jakob, ein Mittdreissiger aus Zürich, der seit einigen Jahren seine Freundin an Goa-Events begleitet.

Das Auto hält auf einem matschigen Parkplatz in Bellaluna, weitab vom Filisurer Dorfkern. Auf dem anliegenden Hügel thront trotzig ein Anwesen mit Glockenturm. Es ist das letzte verbleibende Gebäude auf dem verwaisten Sägewerk- und Bergbaugelände und Schauplatz eines rohen Dorfdramas. Die als Hexenhaus bekannte Wirtschaft kam 1988 in die Schlagzeilen, weil deren Wirtin Paula Roth 1988 von einem Gast aus Habgier erstochen wurde. Heute ist sie im Besitz des Gastro-Unternehmers Patrick Burger. Glück brachte ihm Bellaluna auch keines, diesen Sommer musste er Konkurs anmelden.

Der Weg zum Festivalplatz führt bergab dem Waldrand entlang. Eine Frau erleichtert sich ein paar Meter daneben. Die vorbeitrottenden Menschen stört es nicht. Sie steuern auf den Nabel des Festivals zu, einen grossen weissen Baldachin mit farbiger Decke, in dem während über 72 Stunden DJs mal weniger, mal mehr melodiösen Techno auflegen. Auch sie sind wie das Gros der Gäste mit dem Shuttle oder dem eigenen Auto angereist, den VIP-Bonus gibt es hier nicht. Den Waldpfad schmücken Spruchtafeln wie «Alles wiederholt sich im Leben, nur die Phantasie bleibt jung», Holzstatuen und Mosaike aus Kieselsteinen und Moos. Die Festivalbesucher sollen die Umwelt respektieren. Tatsächlich wird auf die Kunstwerke achtgegeben, zumindest sind sie gegen Ende des Festivals noch intakt.

Es hat zwei Tage fast durchgeregnet, das Gelände unterhalb des Waldes gleicht einem Schlachtfeld. Bagger wabern durch den Morast und schaffen die nasse Erde und Abfälle von der Haupttanzfläche weg. Sie rollen vorbei an einer blauen WC-Häuschen-Reihe und langen Blechtrögen, die als Pissoirs dienen. Es riecht nach Open Air, es riecht nach Schlamm.

Die Tanzfläche in der Mitte des Geländes füllt sich erst gegen Mittag allmählich. Manche Raver verkriechen sich auch den ganzen Tag in ihrem Zelt und feiern erst in der Nacht. Die «Frühaufsteher» schütteln sich zu einem Janis-Joplin-Mash-up, die meisten tanzen für sich allein.

Viele tragen lange Rastazöpfe und bunte Pluderhosen, einige nur um die Lenden gewickelte Tücher oder selbstgebastelte Feenflügel, Blumenschmuck und Pins mit Peace-Zeichen. Ihre äusserliche Ähnlichkeit zu Hippies kommt nicht von ungefähr.

Die Bewegung hat ihren Ursprung in den siebziger Jahren, im westindischen Gliedstaat Goa. Aussteiger wie eben Blumenkinder, Esoteriker und Yogis aus dem Westen begannen damals in der ehemaligen portugiesischen Kolonie, neben ihrer Suche nach Freiheit und Frieden nächtelange Strandpartys zu feiern. Erst mit Reggae und psychedelischem Gitarrensound, dann mit elektronischer Musik. Ihren Rausch und ihr Durchhaltevermögen unterstützten sie mit LSD, Zauberpilzen und Cannabis. Von Goa als Ort übrig geblieben ist heute nicht viel mehr als ein Mythos. Seit den Terroranschlägen von 2008 im 600 Kilometer entfernten Mumbai darf auch in Goa nur noch bis 22 Uhr draussen gefeiert werden.

In den neunziger Jahren hat sich die Szene nach Europa und Australien verlagert und damals auch ihren Höhepunkt an Popularität erreicht. Die Schweiz hatte bis 2005 mit der «Zoom» auf dem Zürichberg eine der grössten Veranstaltungen, sie fand jeweils nach der Street Parade statt. Wegen fehlender Bewilligungen konnte sie seither aber nicht mehr durchgeführt werden. Der schlechte Ruf von Goa-Partys trägt auch Schuld daran. Techno in der Natur? Das ist für viele ein unüberwindbarer Gegensatz. Anwohner und Behörden fürchten sich vor Abfallbergen, Lärm und zugedröhnten Ravern.

«Chasch min Schtoff teschte?»
Um den Abfall kümmert man sich am One Love vorbildlich, die Besucher trennen sogar brav, und auch der Besitzer des Geländes scheint zufrieden, als er an diesem Tag sein Land inspiziert. Doch Goa ohne Drogen – das wäre für viele Gäste so ungeniessbar wie Chai ohne Latte. Das wissen die Veranstalter.

Unter 17-Jährige kommen nicht aufs Gelände, und die Zusammenarbeit mit dem Suchtarbeitsprojekt «Rave it Save» stand von Anfang an fest. Der Stand ist einer der grössten und empfängt die Besucher gleich am Eingang zum Festplatz «als Teil der Party». Die Devise lautet Information statt Restriktion.

Die Raver können ihren Drogenkonsum von einem Mitglied des Care-Teams beurteilen lassen oder sich an einer mit Flugblättern beklebten Säule über Pillen im Umlauf informieren, die besonders unberechenbar sind. Doch die meisten, die am Stand vorbeistolpern, haben höhere Ansprüche: «‹Chasch min Schtoff teschte?›, ist die häufigste Frage, die wir hören», sagt Projekt-Koordinator Hannes Hergarten. Diese Bittsteller muss er abweisen. Denn die anonyme Analyse von Drogen, das Drug-Checking, ist im Kanton Graubünden nicht erlaubt und aufwendig. «Ohne mobiles Labor und Kantonschemiker können wir das gar nicht», meint der Sozialarbeiter.

Hergarten hat als ehemaliger Partyveranstalter langjährige Erfahrung mit der Szene. Die Festivalbesucher vertrauen ihm. Seine äussere Erscheinung trägt sicher dazu bei: Mit seinem Strubbelkopf und dem verwaschenen Snoopy-T-Shirt sieht er nicht aus wie ein Spassverderber oder böser Polizist. Es war seine Idee, direkt mit den Sanitätern vor Ort zusammenzuarbeiten, um diese zu entlasten: «Sie überweisen uns Leute, die wegen ihres Konsums psychische Hilfe brauchen. Das ist häufig abends, da geben alle Gas.»

Veranstalter Raphael Oerer will auch auf den Worst Case, eine Überdosis, vorbereitet sein. Darum ist ein Krankenwagen vor Ort. Die Präventionsmassnahmen scheinen sich auszuzahlen, der Blaulichteinsatz bleibt in diesem Jahr aus. Zwar muss ein 20-jähriger Helfer am letzten Tag nach einem Unfall mit einer Baumaschine mit der Rega ins Spital geflogen werden, doch laut Oerer hat sich der Verdacht auf innere Verletzungen nicht bestätigt, und der Mann wurde mittlerweile entlassen.

Am Rave-it-Save-Stand zapft sich ein älterer Herr einen Früchtetee. Kurt kommt gerade vom Main Floor, wo er drei Stunden durchgetanzt hat. Sein ockerfarbenes Tüchergewand erinnert an die Montur eines thailändischen Mönchs. Er läuft mit einem Gehörschutz herum. Auf die Frage, warum er diesen trage, erwidert er: «Alles ist so laut, der Wald, der Fluss, der Wind.» Er redet offen darüber, dass er gerade auf LSD ist. «Ich habe es mit 15 das erste Mal in Basel genommen. Da hab ich leider grad ein bisschen zu viel erwischt.» Er kichert. «Da hinten sind Feen und Zwerge, die kann nicht jeder sehen.» Er trottet in Richtung Zeltplatz davon.

Die Essenstände, die den Festivalplatz säumen, unterscheiden sich von denen, die man an Open Airs wie jenem in Frauenfeld sieht, das am selben Wochenende stattfindet. Sponsoren aus der Alkohol- und Zigaretten-Branche fehlen. Es gibt nur einen Stand, der Bier und Drinks ausschenkt. Dafür gibt es eine Felswand mit frischem Quellwasser, und auf den Papptellern der Besucher landet viel Biologisches, Veganes und Vegetarisches. Und die Verkäufer grüssen nicht nur am indischen Curry-Stand mit «Namaste».

Die einzige Verpflegungsstation aus dem Albulatal wirkt in dieser Szenerie geradezu exotisch. Am Glace-Mobil von Peter Heinrich macht man keine Kompromisse. Seine Eiskugeln gibt es weder mit Räucherstäbchen- noch mit Weizengrasaroma, sondern ganz normal mit Vanille- und Erdbeergeschmack. Die Besucher stehen gern dafür an. Auch wenn sie ab und an seltsame Gelüste haben. Ein Kunde fragte nach salzigem Eis.

Abseits des Festplatzes gibt es eine «Workshop Area» mit einem Hängemattenpark. Dieser Bereich ist der Ruhepol der Veranstaltung. Inoffiziell ist er für die Leute reserviert, die nichts mit Drogen zu tun haben wollen. Das denkt zumindest Lina, die wie viele der 5000 Besucher aus Zürich kommt, sie erholt sich hier vom Tanzen. Vor der Hauptbühne sei die Stimmung aggressiver, man könne sich nicht entspannen und die Natur geniessen. Die junge Schreinerin ist gekommen, weil ihr die städtischen Goa-Partys zu eng geworden sind. «Jeder kennt jeden, und wenn du keine Pille einwerfen willst, passt du da nur schwer rein. Hier kann man wenigstens ausweichen.»

Auf der Workshop-Wiese können die Besucher kostenlos Aktivitäten wie Yoga und Jonglage ausprobieren. Natürlich immer begleitet von Musik, die hier aber leiser aus den Boxen kommt. Sie soll die Konzentration auf die Sache, den Flow, verstärken. Gerade steht eine Hula-Hoop-Stunde an. Ein Dutzend Frauen kreisen ihre Hüften und Arme, so wie Lehrerin Sonja es vormacht. Das soll gut für das Körpergefühl sein.

Offenbar sind aber auch in dieser Welt Gender-Klischees gültig. Die Männer wagen sich nicht an die Reifen. Sie sitzen lieber am Rand, schauen zu, rauchen, bauen Steinskulpturen oder beobachten Sonjas Freund Phil, wie er auf einer mannshohen Leinwand das Bild einer Alien-Frau malt.

«Hier ist egal, wie du bist»
Die Idylle aus Bergblumen und der milchig-blauen Albula ist perfekt. Wären da nicht die riesigen Starkstrommasten. Sie sind das Einzige, was Kevin stört, der sich mit seinem Waschbrettbauch in der Sonne aalt, die an diesem Tag das erste Mal aus der Wolkendecke bricht. «Die Leitungen sind schlecht für die positiven Energien. Sie können nicht fliessen», sagt der ehemalige Occupy-Aktivist, der 2011 wochenlang auf dem Paradeplatz campierte.

Die Hula-Stunde ist beendet. Der Schweizer Zirkuskünstler El Baston bereitet seinen Auftritt vor. Er stammt aus einer Artistenfamilie und ist mit Goa gross geworden: «Meine Eltern waren Hippies. Mit zwölf haben sie mich auf die erste Party mitgenommen.» Diesen Zeiten trauert er ein bisschen nach: «Früher war alles familiärer, man hat mehr aufeinander geachtet. Ich habe letztens Eltern gesehen, die die Verantwortung für ihr Kind einfach vergassen.» Der Grundgedanke sei trotzdem noch zu spüren: «Hier ist es egal, wie du bist. Alle akzeptieren dich.»

Friede und Liebe überall. Nur die Wandergruppe guckt etwas belämmert, als sie aus dem Wald tritt und sich plötzlich auf dem Festivalplatz wiederfindet. Hastig verziehen sich die Senioren wieder in den Schatten der Bäume.

Re: Auf dem Natur-Trip, NZZaS 03.08.2014

Verfasst: Mi 20. Aug 2014, 02:40
von Der Fragensteller
Ich frag mich ja schon langsam wiso man sich immer so deftig über alles was nur ein bisschen von der
'norm' abweicht lächelich machen muss! Seien wir doch ehrlich, das geht schon seit etwa 15 Jahren
so, das man sich in regelmässigen abständen in verschiedensten, mehr oder minder 'seriòsen' Zeitungen
und im Blick über diese Thematik lächerlich macht! Was hat das mit ernst zu nehmendem,
unvoreingenommenem Journalismus zu tun? Will ich, wenn ich eine Zeitung lese nicht eine informativ
korrekte, objektive sicht der Dinge vermittelt bekommen? Statt zweier dorfklatsch 'Journalisten' welche
sich über etwas auslassen wovon sie keine Ahnung haben? Ist das den immer noch sooo lustig das
immer wieder längst verstaubte und verbrauchte Klischees aus dem Redaktionskeller gekramt werden?
Wenn man sich denn unbedingt so dämlich verhalten will.
Mir zeigt das immer nur das ich auch bei anderen Thematiken, welche in die Lächerlichkeit gezogen
werden ein bisschen genauer hinschauen muss, weil etwas geniales darunter sein könnte!
Verkehrte Wahrheitsfindung halt! :-D