Einsamkeit und Abgeschiedenheit

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AnonymeTexdEd
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Registriert: Mi 29. Jun 2011, 10:10

Einsamkeit und Abgeschiedenheit

Beitrag von AnonymeTexdEd »

Wie viel Wahrheit und wie viel Einsicht fand ich in diesen Zeilen. Ich bewundere Menschen, die etwas so in einen Text packen können.


Von Khalil Gibran

Das Leben ist eine Insel in einem Ozean von Einsamkeit und Abgeschiedenheit.
Das Leben ist eine Insel, Felsen sind seine Begierden, Bäume seine Träume und Blumen seine
Verlorenheit, und es liegt in einem Ozean von Einsamkeit und Abgeschiedenheit.
Dein Leben, mein Freund, ist eine Insel, abgetrennt von allen anderen Inseln und Kontinenten.
Wieviele Boote du auch zu anderen Küsten ausschickst, wie viele Schiffe auch an deiner Küste
landen, du selbst bist eine Insel, mein Freund, abgetrennt durch deinen Schmerz, abgeschlossen
durch dein Glück, weit abgelegen in deinem Mitleid und verborgen in deinen Geheimissen und
Rätseln.

Ich sah dich, mein Freund, auf einem Berg aus Gold sitzen, glücklich in deinem Wohlstand,
mächtig in deinem Reichtum und immer in dem Glauben, eine handvoll Gold sei das geheime
Verbindungsglied, das die Gedanken des Volkes mit deinen Gedanken verbindet und seine
Gefühle mit den deinen.
Ich sah dich als machtvoller Eroberer ein Heer gegen eine Festung führen, sie zerstören und
einnehmen.
Und als ich näher hinsah, fand ich neben der Mauer deiner Schatzkammer ein in Einsamkeit und
Abgeschiedenheit zitterndes Herz, so wie ein durstiger in einem mit Gold und Juwelen besetzen
Käfig zittert, doch er ist ohne Wasser.

Ich sah dich, mein Freund, auf einem Thron sitzen, umgeben von Männern die deine Mildtätigkeit
priesen, deine Gaben aufzählten, die auf dich schauten, als weilten sie in der Gegenwart eines
Propheten, der ihre Seele zu den Planeten und Sternen erhob. Ich sah wie du sie anblicktest,
Zufrieden und Stärke im Gesicht, ganz so, als wärest du für sie, was die Seele für den Körper ist.
Und als ich genauer hinschaute, sah ich dein abgesondertes Ich neben dem Thron stehen, ich sah
es in seiner Abgeschiedenheit leiden, und in seiner Einsamkeit zittern.
Ich sah dieses Ich die Hände ausstrecken, als bettelte es unsichtbare Geister an. Ich sah es über
die Schultern der Leute schauen mit einem auf den Horizont gerichteten Blick, in dem nichts zu
lesen war als Einsamkeit und Abgeschiedenheit.

Ich sah dich, mein Freund, leidenschaftlich verliebt in eine schöne Frau; du bedecktest ihre Hände
mit Küssen, und sie betrachtete sich mit Wohlwollen und Zuneigung in den Augen und dem
sanften Hauch der Mutterschaft auf den Lippen; insgeheim sagte ich mir, diese Liebe hat seine
Einsamkeit ausgelöscht und seiner Abgeschiedenheit ein Ende gesetzt, und er ist jetzt umfangen
von der ewigen Seele, die jene liebevoll an sich zieht, die vorher getrennt waren durch Einsamkeit
und Abgeschiedenheit.
Und als ich näher hinschaute, erblickte ich hinter deiner Seele eine zweite, eine einsame Seele,
die wie ein Nebel war und vergeblich versuchte, eine Träne in der Hand jener Frau zu werden.
Dein Leben, mein Freund, ist eine Wohnstatt, weit entfernt von allen anderen Wohnstätten und
Nachbarn.

Die innere Seele ist eine Wohnstatt, weit entfernt von anderen nach dir genannten Wohnstätten.
Ist diese Wohnung dunkel, so kannst du sie nicht mit einer Lampe deines Nachbar erhellen;
wenn sie leer ist, kannst du sie nicht mit dem Reichtum deines Nachbarn füllen; läge sie inmitten
einer Wüste, du könntest sie nicht in einen von fremder Hand angelegten Garten versetzten.
Deine innerste Seele, mein Freund, ist von Einsamkeit und Abgeschiedenheit umgeben.
Wenn es diese Einsamkeit und Abgeschiedenheit nicht gäbe, wärst du nicht du und ich nicht ich.
Wenn es diese Einsamkeit und Abgeschiedenheit nicht gäbe, so würd ich beim Klang deiner
Stimme denken, ich spräche mit mir selbst, und wenn ich Antlitz sähe, würd ich glauben, ich
schaute in einen Spiegel.
Das Wichtigste ist, sein Leben mit aller Kraft zu leben, bis man es aushaucht.
(Gichin Funakoshi)
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