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In ihr wird definiert, was in der Folge unter Kompetenz zu verstehen ist. Und damit wird festgelegt, was und wie in der Schule gelernt werden soll. Lehrpläne werden auf die Formulierung von Kompetenzen hin ausgerichtet, und auch die Lehrerausbildung ist kompetenzorientiert. Dabei ist es doch irgendwie einsichtig, dass es besser ist, in der Schule eine Fähigkeit zu erlernen als ein Wissen. Keine Frage. Wenn ich lerne, wie ich mir selbst das jeweils brauchbare und notwendige Wissen aneigne, dann kann ich eigentlich jede Situation bewältigen. Wenn ich nur Wissen erlerne, dann kann es sein, dass ich genau dieses Wissen nicht brauche, um mit einer gegebenen Situation klarzukommen.
Aber was wird beim Erlernen von Kompetenzen eigentlich gelernt? Und was wird nicht (mehr) gelernt? In der Definition von Weinert tritt ein bestimmter Typus vor Augen, der der Schüler in der Schule werden soll: der Problemlöser, der bereit und in der Lage ist, jede Situation zu bewältigen. Er ist der von Richard Sennet beschriebene »flexible Mensch«, der handeln kann, wo immer man ihn hinstellt, der funktioniert. Nun ist es ohne Frage sinnvoll, wenn junge Menschen frühzeitig lernen, mit zukünftigen Lebenssituationen umgehen zu können, handlungsfähig zu bleiben. Aber: Was ist, wenn die Situation selber falsch ist, wenn die Gegebenheiten insgesamt infrage gestellt werden müssen, wenn es darum geht, einmal das Ganze zu sehen? Genau das wird nicht gelernt!
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Was passiert tatsächlich in diesem Zusammenhang aus einer Perspektive, die das Ganze in den Blick nimmt und sich fragt, was für ein Subjekt hier produziert wird und wofür es gebraucht wird?
In diesem kleinen Baustein werden Macht- und Disziplinierungstechniken in das Subjekt hinein verlagert bzw. durch die SchülerInnen internalisiert, ohne dass noch die Frage entstehen könnte, ob das Benotungssystem als Ganzes ungerecht ist. So wird Ungerechtigkeit verdeckt, anstatt sie erkennbar zu machen. Zugleich wird durch das Aushandeln der Noten das »Sich-als-Einzelne-Wahrnehmen« der SchülerInnen gefördert und der Blick von außen verinnerlicht. Damit werden Marktfähigkeit und Marktförmigkeit trainiert.
»Jeder ist seines Glückes Schmied« ist eine so banale wie entscheidende Lösung des neoliberalen Projektes, die immer dann aus der Tasche geholt wird, wenn es darum geht, die Ungerechtigkeit von Strukturen auf den Einzelnen abzuwälzen. Da dies in der Regel nicht zu einer Lösung, sondern tendenziell zur Überforderung des Subjekts in Schul-, Universitäts- und Arbeitszusammenhängen führt und der Einzelne nun damit beschäftigt ist, mit den jeweiligen Anforderungen klarzukommen, kann das Ganze als Ganzes, die gesellschaftliche Grundordnung, nicht mehr in den Blick kommen und kritisch hinterfragt werden. Damit ist auch der Begriff »Kritik« zu einem anderen geworden. Natürlich muss auch »Kritikfähigkeit« gelernt werden. Diese bezieht sich aber ebenfalls nur noch auf individuelle Prozesse oder Gruppen. Es geht hierbei lediglich darum, sich untereinander Kritik sagen und diese aushalten zu können; um das Ganze niemals.
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Nicht umsonst, so stellt Ehrenberg fest, ist die Depression das paradigmatische Krankheitsbild der Postmoderne. Wir müssen uns fragen, inwiefern wir in der Schule maßgeblich dazu beitragen, dieses »erschöpfte Selbst« bzw. den Menschentypus, der irgendwann einmal erschöpft sein wird, zu produzieren.
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...der Fokus der Erziehung in der neoliberalen Welt ist darauf gerichtet, wie man ein kompetenter Verbraucher wird, wie man ein kompetenter Verteiler von Wissen wird, ohne irgendwelche ethischen Fragen zu stellen.«
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In einer neoliberalen Welt ist Markt die zentrale Größe, auf die hin Schule ausgerichtet ist.
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Jenseits der Frage, ob Sprache hier nicht schon genug verrät, sei auf folgenden Punkt verwiesen: Im EQR/DQR geht es eigentlich nicht um konkrete Qualifikationen für das Berufsleben, sondern um lebenslanges Lernen, das per definitionem über den Bereich von Arbeit und Beruf hinausgehen sollte. In der Beschreibung der jeweiligen Kompetenzniveaus, die für einen EU-Bürger erreichbar sind, geschieht das Umgekehrte: Lebenslanges Lernen wird mit der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt in eins gesetzt.
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Das Ganze sehen zu lernen aber ist und bleibt eine Voraussetzung dafür, die Notwendigkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen zu erkennen und Transformationsprozesse in Gang zu setzen, die sich nicht von mehr oder weniger wohlmeinenden Reformvorschlägen blenden lassen.
Ps.