Ein Leben als Randsiedler
Abgelegen im Maggiatal sucht eine Gruppe nach dem Gegenpol zur von Konsum und Geld getriebenen Gesellschaft
Laurina Waltersperger
Die Mauern des kleinen Friedhofs sind blau gestrichen. Weisse Marmortafeln schmücken die Mauerbögen. Sie glänzen in der Mittagssonne: «Antonio Grandi, morto il 24 Feb. 1930, California» - eingemeisselt stehen dort die Namen derer, die diesen Ort vor langer Zeit verlassen haben. Diesen Fleck Erde, umringt von Wald, wo sich die Berge des Maggiatals dicht gegenüber stehen. Viele sind weggezogen, haben ihr Glück in Kalifornien oder Italien versucht. Die Letzten sind bis 1945 geblieben. Als der Krieg vorbei und der Hunger besiegt war, gingen auch sie.
Es ist ruhig an diesem Vormittag im November. Nur ein Knacken ist im Waldstück oberhalb des Friedhofs zu hören. Holz, das bricht. Laub, das unter den Füssen raschelt. «Diese Schachtel mache ich noch fertig», sagt Ulrico Stamani. Er grüsst freundlich, während er kleine Holzzweige von dicken Ästen abtrennt und in eine Kartonschachtel stapelt. Seit 20 Jahren lebt der 71-Jährige so, wie es die Letzten hier bis 1945 taten: auf 841 Metern über Meer, ohne warmes Wasser, ohne Zufahrtsstrasse. Oberhalb des kleinen Dorfes Menzonio hat er mit Freunden auf der Monte Pianta Monda die steilen Ackerterrassen hinter den Ställen aus den Fängen des Waldes befreit, gerodet, kaputte Steinmauern aufgeschichtet, die Äcker besät, die alten Ziegenställe und Heuböden zu Wohnraum gemacht. Zusammen mit acht Freunden gründete er eine Genossenschaft, einen Ort des einfachen Lebens. «Früher war ich Ulrich Stadelmann, Lehrer im Kanton Zürich, ein Normalo.» Heute nennt er sich Ulrico Stamani. Ein Umsteiger. Den Begriff «Aussteiger» mag er nicht. Die Gemeinschaft versteht sich als «Randsiedler der Zivilisation».
Ulrico hievt die Schachteln mit den Holzzweigen unter einen Unterstand. Links davon steht ein verlassener Ziegenstall, ein Rustico. Alte Betten aus Stahl lehnen seitlich an der Steinmauer des Stalls. Das Laub liegt knöchelhoch. Seit Januar hat sich hier nicht viel getan.
Damals berichtete Ulrico von seinen Plänen, den Stall zu weiterem Wohnraum für das Öko-Dorf umzubauen. «Wir sind langsam», sagt er heute. 2012 sei ein Planungsjahr gewesen. Den Ausbau der beiden Rustici nehme die Gemeinschaft wohl erst ab 2014 in Angriff. Zwischen 150 000 und 200 000 Franken soll er kosten. Der letzte Umbau dauerte sieben Jahre. «Bei uns läuft's halt anders als in der übrigen Welt.» Ulrico hofft auf zinslose Darlehen aus dem Freundeskreis. Die Glut im Holzherd der Küche ist noch heiss. Ulrico setzt Wasser auf. Der verrusste Wasserkocher spendet warmes Wasser für den Abwasch, die Wäsche, die Dusche.
Geduld und Geld
Warmes Wasser soll es nach 20 Jahren bald aus der Leitung geben. Letzten Winter haben die Genossenschafter darüber entschieden, haben über mit der Hand skizzierten Plänen, Berechnungen und Notizen nach einer kostengünstigen und nachhaltigen Lösung gesucht. Die Euphorie von damals ist verflogen. Kompliziert und kostspielig ist das Projekt. Vor neun Jahren brachte die Gemeinschaft eine Photovoltaikanlage am Hang unterhalb des Hauses an, damit gerade im Winter etwas Licht zum Lesen und Arbeiten da ist. «Die Sonnenkollektorenanlage fürs warme Wasser ist vier- bis fünfmal so teuer wie die Photovoltaik», sagt Ulrico. Erst knapp ein Drittel der benötigten 27 000 Franken haben sie beisammen.
Die Sonne scheint durch die knorrigen Reben der Pergola. Es riecht nach Suppengemüse. Ulrico sitzt mit drei Männern am Tisch. Die Suppe dampft aus den Tellern. Die Männer erzählen sich von der Arbeit am Morgen. Ein junger Österreicher mit langen Rastalocken und ein Franzose mit vollem Gesicht und dunklem Bart sind für ein paar Wochen zu Besuch. Für ihre Arbeit erhalten sie Kost und Logis. Der Dritte träg das strähnige graue Haar schulterlang unter einer Wollmütze. Lange habe er auf einem Hof auf dem Rigi «geknechtet», sagt er. Seit Juli lebt er auf Pianta Monda und will bleiben - der Erste seit langem. Den letzten Winter verbrachte Ulrico noch alleine mit seiner Lebenspartnerin. Die Betten der übrigen Rustici blieben leer.
Raureif liegt auf dem Boden vor dem Haus. Die nächtliche Kälte und Feuchtigkeit hat das Gras zum Erstarren gebracht. Eiskristalle kleben an den knorrigen Rebzweigen der Pergola. Im Winter lässt die Sonne morgens auf sich warten. Ulrico reibt seinen hageren Oberkörper mit beiden Händen. Er fröstelt. Ohne Jacke, nur mit Hose, Hemd und Schal steht er vor dem Rustico und schaut ins Tal. Weihnachten hat er diesen Winter ohne seine Lebenspartnerin Sanna verbracht. Diese ist seit einigen Wochen bei ihrer Tochter in England und hilft ihr mit dem Baby. Die letzten Jahre waren Ulrico und Sanna über Weihnachten zusammen verreist. Nach Carriacou, einer kleinen Insel in der Karibik, wo sie Sannas zweite Tochter in deren Pension unterstützten. «Für den Öko-Fussabdruck ist es natürlich schlecht», sagt Ulrico. Aber Sanna habe nun einmal einen Teil ihrer Familie dort.
Neben dem Wohnhaus steht ein kleines Steinhäuschen. Die Vorratskammer. Trotz schlechtem Gartenjahr sei noch Wintergemüse und Eingemachtes vorhanden, sagt Ulrico. «Knapp wird es erst Ende Februar.» Doch auch in den Wintermonaten davor ist der Speiseplan spärlich: Oft gibt es Haferbrei mit Apfel und Zimt zum Frühstück. «Hier geht's um Überlebenskunst», sagt Ulrico. «Monti di fame nannten sie früher die Bergtäler hier.» Hungerberge. «Heute will jeder alles mit möglichst wenig Aufwand haben - möglichst schnell vom warmen Bett ins warme Auto und dann ins warme Büro.» Bequem seien sie geworden, die Menschen. Er schüttelt den Kopf. Im Winter geht er morgens als Erstes raus in die Kälte, danach schätze er es umso mehr, sich am Feuer aufzuwärmen.
Das Feuer knistert. Ulrico legt Holz nach. Anpacken wolle heute keiner mehr - dafür planen, organisieren, die Verantwortung delegieren. «Unsere Gesellschaft ist schrecklich resigniert», sagt er. Und die «Immer-mehr-Mentalität» sei ein zerstörerischer Motor. Das habe sich jüngst auch in Griechenland, gezeigt, wo die Menschen über ihre Bedürfnisse gelebt hätten. Eine «Schule des Staunens» wollte er gründen. Einen Gegenpol zur geld- und konsumgetriebenen Gesellschaft. «Wir haben das Staunen verlernt», sagt Ulrico. Auf Pianta Monda hat er es wieder entdeckt - dank der Natur. Tag für Tag. Hier im Tal hätten die Menschen seit über 300 Jahren die Natur ausgebeutet. Heute sprächen alle von Nachhaltigkeit, sie auf Pianta Monda lebten danach. Ihr Projekt werde eines Tages zukunftsweisend sein.
Selbstversorgung als Ziel
An kalten Wintertagen ist die Post die Hauptverbindung nach draussen, zu Freunden, zum Geschehen. Medien nutzen die Randsiedler so gut wie nie. Auf Pianta Monda gibt es weder Fernseher noch Radio - nur ein paar alte Zeitungen zum Feuermachen. «Wir leben von der Mund-zu-Ohr-Propaganda und der Post», sagt Ulrico. Von Facebook, Twitter und Co. halten sie nichts. Wichtige Geschehnisse hätten es noch immer zu ihnen geschafft. «Dann wissen wir halt erst zwei Monate später, dass jemand Neues im Bundesrat sitzt oder Ghadhafi tot ist.»
Ulrico parkiert den alten Subaru vor dem Negozio Valmaggese. Hier im kleinen Laden, in Bignasco, zwei Dörfer talabwärts, verkauft die Gemeinschaft Kräutertee, Holunderblütensirup, Filztaschen, Handgestricktes aus ihrem Öko-Dorf. Der Laden hat keine festen Öffnungszeiten. Wer Zeit hat, kommt vorbei und schliesst auf. Die zusätzliche Einnahmequelle sei wichtig, sagt Ulrico. Auch wenn sie nicht viel zum Leben benötigten, «äs bitzli» könnten sie immer dazu gebrauchen.
Neben dem Kassabuch liegen Broschüren: «Statuten der Genossenschaft Pianta Monda Menzonio» steht da. In Schreibmaschinenschrift sind Zweck und Aufgaben notiert: «Finanziell selbsttragend und möglichst selbstversorgend» soll der Betrieb sein. Dahin sei es noch ein langer Weg, sagt Ulrico. Mit einer erfahrenen Landwirtin, die im März mit Ziegen auf Pianta Monda anfängt, werden sie einen grossen Schritt in der Selbstversorgung machen. Dank den Ziegen, die Milch, Wolle, Fleisch und Dünger geben. Jedes Prozent mehr sei ein «Sauchrampf», die Selbstversorgung ein hochgestecktes Ziel.
Sicherheiten gibt es auf Pianta Monda keine. Aber Abhängigkeiten: Neben den Einnahmen aus dem Agrotourismus, Gemüseverkauf und Laden lebt das Öko-Dorf von zinslosen Darlehen für den Weiterausbau, den Genossenschaftsbeiträgen und Spenden. Es kommt immer wieder zu finanziellen Engpässen. Da könne es vorkommen, dass einer sein Geld dann zurück wolle, wenn sie gerade nicht zahlen könnten. «Dann müssen wir Freunde anpumpen.» Viele hätten ein seltsames Verhältnis zu Reichtum und Armut. Er habe gelernt, nach Geld zu fragen. So steht oben im Öko-Dorf auch ein Hahn aus gebranntem Ton, unter dem steht: «Ich bin der Geldhahn, der das Geld pickt, das niemand mehr braucht.»
Die Abendsonne scheint auf die dreckbefleckte Haube des Subaru. Ulrico steigt ein. Bevor es eindunkelt, muss er wieder talaufwärts, nach Hause. Die Fahrt geht vorbei an Vorgärten mit hohen Palmen, Bildstöcken mit blau-weissen Madonnen, Kindern, die Fussball spielen. Nach Bignasco wird die Strasse immer schmaler. Die Sonne ist verschwunden, auf den Felsvorsprüngen und den schattigen Hängen liegt Schnee. Bis sich der Winter langsam, Stück für Stück aus dem engen Tal zurückziehen wird, dürfte es noch dauern. Ulrico freut sich aber bereits auf bekannte Gesichter und neue Helfer, die meist im März wieder kommen. Doch er weiss: Auch dieses Jahr werden viele wieder gehen - «weil sie die Monti di fame zu spüren bekommen».
Laurina Waltersperger ist freie Journalistin.