Der Prototyp

Mysteriöse Erfahrungen, Weisheiten, Rätselhaftes.
Drachenherz

Der Prototyp

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Prolog

„Selma, schön dich nach so langer Zeit endlich mal wieder zu sehen“, sagte der junge Mann zu seiner Schwester, auf einem moosbewachsenen Baumstamm mitten in einem vertrauten Waldstück sitzend. Sie blickten auf eine von Wildgräsern überwucherte Lichtung in dem Wald, in welchem er sich in seiner Kindheit für Stunden verlieren konnte, fernab von anderen Menschen, obwohl die Siedlung, in welcher er aufgewachsen war, nur knapp einen Kilometer entfernt lag.
Er wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal mit seiner Schwester zusammen gesessen war, und sie beide einfach nur die Gegenwart des anderen geniessen durften. Eigentlich war das noch nie der Fall gewesen.
„Selma, es kommt mir vor wie in einem Traum, dass wir beide einfach so zusammen sitzen, und dies an einem so idyllischen Plätzchen wie hier an meiner Lieblingslichtung.“
„Das kommt davon, weil du tatsächlich am träumen bist, Zwerg“, erwiderte Selma mit ihrem ihr eigenen Sarkasmus. „Ja, so muss es wohl sein“, murmelte er gedankenverloren vor sich hin, „anders kann ich mir dieses traute Beisammensein mit dir nicht erklären.“
Selma blickte traurig zu ihrem Bruder rüber, ihr mattschwarzes Haar fiel ihr teilweise über die Schultern, als sie sich zu ihm rüberlehnte und ihren Arm um ihn legte.
„Nimm es nicht so hart, kleiner Bruder. Ich meine es nicht böse, wenn ich dich mit meinen Worten necke. Weisst du, auch wenn ich dir nie sagen konnte, dass ich dich liebe, so soll das nicht heissen, dass das nicht der Fall gewesen ist. Michael, ich möchte dass du weisst, dass ich dich immer bedingungslos geliebt habe, und dass sich das niemals ändern wird. Es mag sein, dass wir zwei auf verschiedenen Wegen zu wandeln scheinen, doch ich habe gelernt, deinen Weg zu akzeptieren und ihn dich gehen zu lassen, ohne dich zu verurteilen.“
Verdutzt schaute Michael zu Selma rüber, erblickte ihre haselnussbraunen Augen, welche von einer Weisheit, einer Liebe und einer Tiefgründigkeit efüllt waren, die er in ihnen bis jetzt noch nie wahrgenommen hatte.
„Selma? Geht es dir auch wirklich gut? Wohl höre ich die Worte, die über deine Lippen kommen, doch fehlt mir der Glaube, dass sie wirklich die deinen sind. In all den Jahren hab ich noch nie etwas derartiges von dir gehört. Ah, ich vergass, ich bin ja am träumen..."
Selma blickte ihrem Bruder tief in die Augen. „Ja, du bist wohl am träumen, aber wir zwei, wir sind real. In der wachen Welt mögen wir zwei uns nicht nahe erscheinen, doch glaube mir, dies ist nur eine Oberflächlichkeit und viel weniger real als das, was wir jetzt beide erleben. Du spürst es in der wachen Welt ja selber, dass diese Welt mehr wie ein Spiel ist, wie ein Spiegel der wahren Welt, welche allem Leben in einer unvorstellbaren Vielfältigkeit zu Grunde liegt. Erinnerst du dich nicht mehr? Du hast mir ja ständig davon erzählt. Nur weil ich dich von mir wies, weil ich nichts davon hören wollte, sollte das noch lange nicht bedeuten, dass mir deine Worte nicht geblieben sind. Ich wusste schon die ganze Zeit, dass du auf dem richtigen Weg warst und immer noch bist, nur schmerzten mich deine Umwege so sehr, dass ich dich zu meinem eigenen Schutz von mir weisen musste...“
Bei diesen Worten wurde Michael sehr schwer um sein Herz, und Tränen stiegen ihm in die Augen.
„Sei nicht traurig,“ flüsterte ihm seine Schwester zu, „Unwissenheit war auch lange Zeit meine Begleiterin. Und ausserdem, woher solltest du denn auch wissen können, dass du mir weh tatest, denn ich liess dich ja nie wissen, warum ich mich von dir abwandt. Ach, mein lieber Michael, es gäbe noch so vieles, was ich dir gerne mitteilen würde, aber mir fehlt die Zeit, denn für jetzt heisst es für uns „à dieu“, ich muss nun gehen.“
„Was meinst du damit?“ fragte er Selma verdutzt.
„Du wirst es bald erfahren,“ antwortete sie ihm mit einem liebevollen Lächeln, welches er an ihr noch nie bemerkt hatte.
„Leb wohl, mein Bruderherz, und bleibe immer deinem Herzen treu, es wird dir deinen richtigen Weg weisen.“


Verwirrt und verschwitzt wachte Michael in seinem Bett auf. Ein Klingeln hatte ihn aus dem Schlaf gerissen und mit schlafverklebten Augen tastete er auf dem Nachtkästchen nach seinem Telefon, bis er realisierte, dass das Klingeln gar nicht vom Telefon stammte, sondern von seiner Wohnungstüre. Schlaftrunken öffnete er die Türe und sah zwei Männer im Gang stehen. Einer der beiden streckte ihm einen Polizeiausweis entgegen und sagte zu ihm: „Meier, Kantonspolizei, entschuldigen sie bitte die späte Störung. Sind sie Herr Michael Felrot?“
Mit einem Gefühl der Beklemmung in der Magengegend bejahte Michael diese Frage, und noch bevor er selber fragen konnte, um was es denn ginge, redete dieser Herr Meier von der Kantonspolizei weiter.
„Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihre Schwester heute Nacht im Kantonsspital St. Gallen verstorben ist.“
Zuletzt geändert von Drachenherz am Mi 7. Jan 2009, 17:15, insgesamt 2-mal geändert.
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

Schicksalsverbindung

Ein tiefer Blick in Deine Augen genügt mir
um zu sehen dass wir uns schon ewig kennen
woher ich das weiss kann ich nicht klar benennen
und es ist auch nicht wichtig im Jetzt und im Hier

Unser Schicksal führt uns wohl Leben für Leben
von neuem alt bekannt wieder zu uns zurück
und verirrt im Nebel ist es das grösste Glück
einer vertrauten Seele die Hand zu geben
***
Der Anfang des Erwachens



Es schien, als ob Michael den Schock des plötzlichen Todes seiner Schwester auch nach Monaten noch nicht richtig verdaut hatte. Er sass in seinem Büro vor dem Computer, zugedröhnt von zuviel Alkohol, und starrte gedankenverloren auf den Bildschirm. Es herrschte eine gespenstische Stille im Raum, welche nur durch das Surren der Lüftung seines PCs durchdrungen wurde. Auf seinem Arbeitsplatz sammelten sich leere Bierdosen an und der Aschenbecher, welcher neben der Computermaus stand, quoll über vor bis auf den Stummel niedergerauchten Zigarettenkippen.


Immer wieder tauchte das Gesicht von Selma vor seinem inneren Auge auf, ihre feinen Gesichtszüge, welche im Kontrast standen zu ihren leicht hervortretenden Wagenknochen, ihre dunklen Augen, welche er nie richtig hatte lesen können, ihr zugleich strenger und doch auf seltsame Art liebevoller Ausdruck, welcher um ihre Lippen lag, liessen ihn nicht los und er verkroch sich immer weiter in seiner inneren Resignation.


Die Meldung von ihrem plötzlichen Ableben hatte ihn wie ein Schock getroffen und ihn noch weiter in den Abgrund hinein gestossen, auf welchen er schon seit längerer Zeit unaufhaltsam hingesteuert hatte.

„Ich hätte ihr noch so viel zu sagen gehabt,“ ging es ihm zum unendlichsten Male durch den Kopf, als er sich eine weitere Zigarette anzündete, welche er gedankenverloren rauchte.



Nachdem er sich einige Stunden den Kopf gehörig auf diversen belanglosen Internetseiten gewaschen und wieder mal einige Biere zuviel getrunken hatte, stellte Michael schliesslich den Computer ab und stand auf, um sich endlich ins Bett zu begeben. Damit er am nächsten Tage wieder seiner bedeutungslos gewordenen Arbeit nachgehen konnte, damit er am nächsten Tage wieder nach nunmehr unerfüllender Arbeit nach Hause gehen konnte, damit er erneut seinen Schmerz im Alkohol und in der leeren Informationsflut des Internets ertränken konnte.



Er torkelte zum Lichtschalter im Büro, um das Licht auszuknipsen, vorbei an seinem Bücherregal, welches er seit einer scheinbaren Ewigkeit zwar immer wieder gesehen, aber doch nicht wahrgenommen hatte. Irgendwie konnte er diesmal seinen Blick aber nicht vom seinem Bücherregal abwenden. Auf der obersten Ablage, wo er seine Bücher über diverse spirituelle Themen abgelegt hatte, schien ein Buch auf eine unerklärliche Art und Weise zu strahlen, ihn anzuziehen und mit einem nicht in dieser Dimension wahrnehmbaren Licht regelrecht zu leuchten. Michael trat vom Lichtschalter weg, näher an das Büchergestell, und sah sich die verschiedenen Bücher in der obersten Ablage genauer an, doch als er die Bücher genauer betrachtete, war dieses seltsame Gefühl, dass er noch Momente zuvor verspürt hatte, wieder weg.



„Ich muss langsam in den Wahnsinn abdriften,“ dachte er für sich, als er sich umdrehte, das Licht ausmachte, und ins Bad für sein tägliches Ritual der Abendhygiene wankte. Bei der Pflege seiner Zähne verspürte er ein seltsames Gefühl, eine Art Schauer, welcher seinen Körper auf nicht unangenehme Art und Weise umhüllte und gleichzeitig erfüllte. Dieses Gefühl war Michael nicht fremd. Er kannte es von früher, er hatte diese Art von wohligem Schauer jeweils verspürt, als er in der Nähe von geliebten Personen war, so als ob er die Energiefelder von ihm nahen und lieben Menschen hatte spüren können.



„Ift da wer?“ fragte er ins Leere hinaus, noch mit Zahnpasta im Mund, weshalb er den sowieso schon vor Dreck starrenden Spiegel noch ein wenig mehr verspritzte. 

Es kam keine Antwort. Zumindest kam keine verbale Antwort, weder in Michaels Gedanken und noch viel weniger eine akustisch wahrnehmbarer, doch Michael wurde urplötzlich von einem Gefühl der Liebe erfüllt. Er konnte es sich selber nicht erklären, doch plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen und er konnte sich nicht dagegen wehren, vor sich hin zu weinen, dieses Gefühl der Liebe übermannte ihn derart, dass er zusammensackte um mit dem Rücken zur Wand, seinen Kopf in seinen Händen, mit angewinkelten Beinen, schluchzend seinen Tränen freien Lauf zu lassen, ignorierend, dass er sich selber mit Zahnpasta vollsabberte.



Er kauerte an der Wand und weinte, sein Körper zuckte unter der Gewalt der Emotionen, die über ihn herein brachen, durchströmt von einem Gefühl der Liebe und der Trauer zugleich, doch irgendwie waren diese Tränen heilsam und es schien, als ob etwas in ihm zerbrochen war, eine Barriere um sein Herz, welche er ohne es wirklich zu merken aufgerichtet hatte.



Nachdem er sich wieder gefasst hatte, stand er langsam auf, zitternd vor der Anstrengung seines Heulkrampfes, und wusch sich sein von Zahnpasta verschmiertes Gesicht. Als er sich Wasser ins Gesicht spritzte, da spürte Michael seit schon wer weiss wie langer Zeit wieder etwas, was ihm scheinbar für immer verwehrt gewesen schien: Hoffnung. Er trocknete sein Gesicht, schaute in den Spiegel, und erschrak, als er sein eingefallenes und bleiches Gesicht sah. Seine Augen waren von dunklen Rändern umsäumt, die sogar die feinen Lachfältchen in seinen Augenwinkeln überdeckten. Seine Mundwinkel schienen so verhärtet, als ob er ein Leben lang nicht gelacht hätte. Sein braunes, kurzes Haar wirkte fahl und erschien ihm wie verdörrtes Stroh. „Was ist nur mit mir passiert, was ist bloss aus mir geworden?“ dachte er sich. „Wo sind die Kraft und die Liebe geblieben, welche ich einst in jedem Moment in mir verspürt hatte? Wieso bin ich nur noch ein Schatten dessen, was ich einst war?“



„Weil du dich schon vor langer Zeit selber aufgeben hast, mein lieber Michael“, tönte plötzlich eine feine, kaum wahrnehmbare Stimme in Michaels Kopf. „Doch hab keine Angst, wenn du bereit bist, wirst du wieder aus diesem finsteren Tal hinausschreiten, in welches du dich verirrt hast. Das einzige, was du tun musst, ist aufzustehen, nachdem du nun gestürzt bist, um wieder aus der Finsternis zu wandeln, welche dich überkommen hat. Bleibe nicht liegen und fürchte dich nicht, denn du bist nicht allein.“ „Wer bist du?“ fragte Michael in Gedanken in die Stille um sich herum hinaus, immer stärker befürchtend, dass er nun tatsächlich die Grenze zum Wahnsinn überschritten hatte. Er erwartete eigentlich nicht, eine Antwort zu erhalten, doch zu seinem Erstaunen meldete sich die Stimme in seinen Gedanken wieder. „Um mich zu kennen musst du zuerst damit beginnen, dich selber wieder zu finden.“


Und dann schwieg die Stimme wieder, egal wie sehr Michael in Gedanken oder auch mit Worten sich an sie wandte. Doch er war darüber nicht traurig, denn das Gefühl der Liebe in ihm war geblieben und eine fruchtbare Hoffnung erfüllte sein ganzes selbst. Dieses Gefühl der Liebe, welches ihn erfüllte, wusch seine Ängste fort, ob er in den Wahnsinn abzugleiten drohte oder nicht, denn wenn Wahnsinn sich so anfühlen sollte, dann bevorzugte Michael ihn gegenüber der harten Realität, welche er die letzten Monate durchlebt hatte.

Schliesslich schaffte es Michael doch noch, sich körperlich von dieser Erfahrung geschwächt und zugleich doch im Herzen gestärkt in sein Schlafzimmer zu begeben, wo er fast wie in Trance in sein Bett plumpste und in einen tiefen und erholsamen Schlaf fiel.
Zuletzt geändert von Drachenherz am Do 8. Jan 2009, 07:47, insgesamt 3-mal geändert.
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

Michael erwachte am nächsten Morgen um exakt 06:33 Uhr, zwei Minuten, bevor ihn sonst wie üblich sein Wecker aus einem für gewöhnlich wenig erholsamen Schlaf riss. Überreste von Verwirrtheit spukten noch in seinem Kopf herum, einer Verwirrtheit, die Michael seinen wilden Träumen dieser Nacht zu verdanken hatte, obwohl er sich schon nicht mehr daran erinnern konnte, was er genau geträumt hatte.

Generell konnte er sich seit diesem seltsam klaren Traum, den er vor Selmas Tod gehabt hatte, nicht mehr an die Inhalte seiner Träume erinnern. Jener Traum hatte ihn zutiefst erschüttert und ist ihm bis heute klar in Erinnerung geblieben, klarer als manch wacher Moment in seinem Leben. Was ihn an jenem Traum am meisten berührt hatte, war die traute Zweisamkeit, welche er mit seiner Schwester erlebt hatte, und die er im echten Leben nie hatte geniessen dürfen, so sehr er sich das auch gewünscht hatte. Selma war immer sehr distanziert zu ihm gewesen, und rückblickend betrachtet konnte er ihr das auch nicht mehr übel nehmen. Doch er mochte jetzt gar nicht weiter an Selma und an diesen Traum denken.

Michael schüttelte kurz den Kopf, schnippte sich eine Zigarette aus dem angerauchten Päckchen Zigaretten auf dem Nachtkästchen heraus, stand auf und schlurfte in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu machen und seine Zigarette zu rauchen. Während der Wasserkocher leise vor sich hinzischte und der Rauch seiner Zigarette seine Lungen füllte, gingen ihm die Erlebnisse von vergangenem Abend durch den Kopf. Er ging noch einmal zurück in sein Büro, machte das Licht an und sah sich sein Bücherregal genauer an. Er stellte dabei nichts besonderes fest, was ihn allerdings auch nicht weiter erstaunte, da er doch langsam der Überzeugung war, an den Pforten des Wahnsinns zu kratzen. Er nahm ein paar Züge von seiner Zigarette, klopfte kurz die Asche ab, und ging wieder zurück in die Küche.

Er setzte sich an den Küchentisch, schlürfte seinen Kaffee und las eine Gratiszeitung vom Vortag. Bei diesen Gratiszeitungen war es ihm vollkommen egal, ob er ein aktuelles oder ein schon älteres Exemplar in den Händen hielt, denn es ging ihm dabei nicht um die Informationen, die darin standen. Diese waren sowieso austauschbar und im Prinzip nichts anderes als eine von der Masse akzeptierte Form der Gehirnwäsche. Er wollte einfach seinen Geist ein wenig ablenken, um sich nicht weiter mit sich selber beschäftigen zu müssen, und diesen Zweck erfüllten solche Zeitungen vollständig, wie sämtliche anderen Medien auch.

Nach seinem Junggesellenfrühstück und einer kurzen Dusche machte sich Michael auf den Weg zur Arbeit. Er schloss die Türe seiner 3-Zimmerwohnung, welche er günstig in einem Mehrfamilienhaus in Aesch, einem kleinen Dorf am Pfannenstiel in der Nähe von Zürich, hatte anmieten können. Auf dem kurzen Weg zur Tiefgarage nahm er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewusst war, wie die Vögel mit ihrem Gezwitscher den beginnenden Tag begrüssten, und er war zugleich erstaunt als auch erfreut über die Wachheit, welche er trotz des übermässigen Alkoholkonsums des Vortages verspürte.

Michael genoss normalerweise die morgendliche Fahrt zur Arbeit. Zumindest genoss er sie soweit, wie es der alltägliche Irrsinn auf den Strassen ihm gestattete. Auf jeden Fall schätzte er die Zeit, die er während der Fahrt für sich hatte, in welcher er Radio oder Musik hören und seine Gedanken noch ein wenig driften lassen konnte. Ausserdem hatte sich auch eine gewisse emotionale Bindung zwischen ihm und seinem Fahrzeug, einem 98er Mitsubishi Colt, gebildet, welchen er liebevoll „Mitsu“ nannte, ein weiterer Grund, weshalb er es bevorzugte, mit dem Auto zur Arbeit zu gehen anstatt die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Michael stieg in sein Auto, schnallte sich an und startete den Motor.

Heute entwickelte sich die Fahrt zum reinsten Horrorerlebnis, denn es schien sich jeder einzelne auf den Strassen befindliche Verkehrsteilnehmer insgeheim gegen Michael verschworen zu haben.
Schon bei der Ausfahrt aus der Tiefgarage wurde er fast von einem mit an Lebensfeindlichkeit grenzender Geschwindigkeit daher kommenden Velofahrer abgeschossen, welchen er aus unerfindlichen Gründen übersehen hatte. Michael schluckte den Fluch wieder herunter, der ihm auf den Lippen gelegen war, und reihte sich nach einer kurzen Fahrt durch den Quartierdschungel in den Reigen des morgendlichen Stossverkehrs im Zürcher Oberland ein.

Es vermochte ihn immer wieder zu erstaunen, wie viele Menschen durch offizielle Institutionen die Bewilligung in Form eines Führerscheines erhielten, andere Menschen durch ihre krankhafte Fahrweise ernsthaft zu gefährden. Natürlich gehörte Michael nach seiner eigenen Anschauung zu den wenigen Mitgliedern der Menschheit, die tatsächlich Auto fahren konnten. Dies musste er an diesem Morgen auch unter Beweis stellen, weil er einem entgegen kommenden Lastwagen ausweichen musste, als er einen vor ihm dahinschleichenden und schon fast scheintoten Rentner überholte. Wild gestikulierend schwenkte Michael gerade noch rechtzeitig vor dem überholten Auto ein und dachte ironisch zu sich selber, dass er diesmal seinen Schutzengel doch ziemlich beansprucht hatte.

Er hätte nun am liebsten diese unscheinbare und leise Stimme überhört, welche sich darauf in seinem Kopf meldete und ihm mit einem sarkastischen Unterton zustimmte: „Ja, dein Schutzengel muss bei dir mehr Überstunden leisten als der Weihnachtsmann an Heiligabend.“

Fast hätte Michael die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren, so sehr überraschte ihn diese Antwort, vor allem, da er nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet hatte. Doch anstatt diese Stimme als ein blosses Hirngespinst abzutun, fragte Michael: „Wie bitte meinst du das?“
Und schon wieder erhielt Michael eine Antwort auf seine gedankliche Frage, eine Antwort, die wie seine eigene Stimme der Gedanken tönte, die aber von diesen aber doch verschieden war:
„Ich meine das so, wie ich das gesagt habe. Du forderst dein Schicksal mit deiner gefährlichen und überheblichen Fahrweise übermässig heraus. Hast du dir nie überlegt, dass du vielleicht ein wenig ruhiger werden solltest, um somit denjenigen, die dir wohl gesonnen sind, weniger Sorgen zu bereiten?“ Michael wusste nicht, was er auf diese Aussage erwidern sollte, so tat er das, was die meisten Menschen in so einer Situation taten: Er ignorierte dieses geistige Gespräch. Dennoch fuhr er ein wenig defensiver, was in dem immer dichter werdenden Verkehr durchaus von Vorteil für ihn war.

Michael war froh, als er nach dieser seltsamen Fahrt sein Auto in Pfäffikon auf einem kleinen Parkplatz neben der Gemeindeverwaltung abstellen konnte, um seine tägliche Arbeit im Betreibungsamt aufzunehmen.
Zuletzt geändert von Drachenherz am Mo 5. Jan 2009, 11:50, insgesamt 1-mal geändert.
Lila
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Re: Der Prototyp

Beitrag von Lila »

Hammer Drachi WoW

bi dere gschicht hani en ganzi achterbahn vo gfühl durchläbt..
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crawltothesky
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Re: Der Prototyp

Beitrag von crawltothesky »

Sehr gefühlvoll geschrieben. =D> Bin gespannt darauf, wie es weitergeht.
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The Dude

Re: Der Prototyp

Beitrag von The Dude »

*zustimm*

=D>

:ove:

/pfeil

;)
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

Bei seinem Eintreffen im Büro wurde Michael schon durch seine Arbeitskollegen Ralph Walther und Elvira Mezger begrüsst. „Guten Morgen, Michael, hey, heute schon so früh im Büro? Und was ist denn mit dir passiert, du siehst heute um einiges weniger bleich aus als sonst, mal wieder Sex gehabt?“ empfing ihn Elvira, mit einem schelmischen Grinsen auf den dünnen Lippen, ein keckes Blitzen in ihren von einer Hornbrille verdeckten Augen. „Ich hab dich auch gern, Elvi, und guten Morgen allerseits,“ entgegnete Michael, mit dem Anflug eines Lächelns. Ralph, ein leicht untersetzter Mit-50er mit Stirnglatze und einem praktisch nicht vorhandenen Modegeschmack, nickte ihm nur kurz zu und raunte ein „'ten Morgen“ und verschwand dann in seinem Büro.

„Nein, mal im Ernst, Michi, du siehst echt endlich mal wieder besser aus heute. Zwar noch fern von „richtig gut“, aber schon viel besser als die Zombienummer, die du die letzte Zeit durchgezogen hast. Was ist denn passiert?“ bohrte Elvira nach, neugierig geworden durch die leichte Veränderung, die Michael offenbar ausstrahlte.
„Mhmm, ich weiss es selber nicht genau, Elvi, aber gestern Abend... naja... eigentlich ist nichts aussergewöhnliches passiert. Aber ich brauch erst mal meinen Kaffee,“ redete sich Michael heraus, da er eigentlich nicht so sehr erpicht darauf war, das Erlebte von vergangenem Abend seiner Arbeitskollegin zu erzählen, zumindest für den Moment nicht. Ausserdem widerstrebte ihm die Vorstellung, seinen Arbeitskollegen anzvertrauen, dass er eine Stimme in seinem Kopf gehört hatte. Er ringte der Kaffemaschine eine letzte Tasse ab, bevor sie nach der Auffüllung ihres Wassertanks verlangte, und ging in den ersten Stock in sein eigenes Büro. Er deponierte seine Kaffeetasse neben der Tastatur auf seinem Schreibtisch, warf den Computer an und hängte schlussendlich seine Jacke auf.

Elvira hatte ebenfalls ihre Sachen in ihrem Büro vis à vis von seinem versorgt und kam zu Michaels Arbeitsplatz herüber, lehnte sich mit der rechten Schulter an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Hey Michael, ich wollte dir vorhin nicht auf den Schlips treten, ich meinte tatsächlich, dass ich mich freue, dass es dir endlich ein wenig besser geht,“ sagte sie zu Michael, der sich gerade an seinem Schreibtisch niedergelassen hatte. „Die letzten Monate warst du wirklich wie verwandelt und es ist schön, heute wieder etwas von deinem alten Selbst in dir zu erkennen. So, ich lass dich jetzt aber in Ruhe arbeiten, bis später in der Kaffeepause. Ah übrigens, der Boss lässt sich entschuldigen, er kommt heute nicht, liegt mit der Grippe im Bett.“ Elvira drehte sich schon um, als Michael ihr mit einem leichten Nicken des Kopfes andeutete, noch kurz zu bleiben. „Ich wollte die letzten Monate nicht so sein, wie ich war, Elvi. Es tut mir leid, dass ich so distanziert gewesen bin. Bis später, und danke dir vielmals für deine Worte, tut gut zu hören.“ Elvira lächelte und ging hinüber in ihr eigenes Büro.

„Irgendetwas Gutes ist gestern Abend passiert,“ dachte Michael zu sich, „auch wenn ich mir nicht erklären kann, was es genau ist, fühlt es sich doch irgendwie richtig an.“ Doch anstatt sich diesem Gedanken weiter hinzugeben, wandte er sich nun seinem Computer zu, um seine Mails abzurufen. Wahrscheinlich waren eh nur die üblichen Scherzmails seiner Kollegen eingegangen, vielleicht noch ein bisschen berufliche Korrespondenz und sicherlich die eine oder andere Spammail. Es war erbärmlich, dass die IT-Verantwortlichen der Gemeinde nicht fähig waren, einen anständigen Spamfilter einzubauen.

In der Flut von ganzen 13 Emails, welche in den vergangen Stunden eingegangen waren, stach Michael eine Nachricht jedoch sofort ins Auge. Es war eine Nachricht von Peter Hafner, einem schon fast vollständig in Vergessenheit geratenen Freund von ihm, den er seit bald 15 Jahre nicht mehr gesehen hatte. In seiner Internatszeit war er ständig mit ihm um die Häuser gezogen und sie zwei hatten eine echte Seelenverwandtschaft entdeckt und zusammen auch keinen Schabernack ausgelassen. Doch nach ihrer Schulzeit hatten Peter und er sich irgendwie aus den Augen verloren, dies vor allem deshalb, weil Peter ein Studium an der Universität in Hamburg begonnen hatte. Die grosse örtliche Distanz hatte ihre Freundschaft leise zum Einschlafen gebracht, und beide Freunde vergassen im Verlauf der Zeit, sie wieder aufzuwecken.

Irgendwie erschrak Michael bei der Erkenntnis, dass er Peter 15 Jahre nicht mehr gesehen hatte. Dabei war die Geschwindigkeit, wie die Jahre an ihm vorbeigezogen waren, die schmerzhaftere Erkenntnis, als Peter so lange nicht mehr gesehen zu haben. Wahre Freundschaft überdauert die Jahre, hatten sie sich damals immer gesagt. Ob das wirklich der Fall sein sollte, würde Michael herausfinden, wenn er endlich die Nachricht lesen würde, auf die er jetzt schon seit mehreren Minuten gedankenverloren starrte:

Absender: peter.hafner[at]hsbc.com
An: m.felrot[at]pfaeffikon.zh.ch
Betreff: Bier?

Hey Rotfell, bin wieder im Lande.
Wird Zeit für ein Bier. Wann, wo, wie?

Wir hören uns,
Der Hafen


„Ja, wahre Freundschaft überdauert tatsächlich die Jahre,“ dachte Michael, „das ist der alte Hafen!“

Irgendwie erstaunte es Michael nicht, dass er nun von neuem dieses Gefühl eines über den ganzen Körper prasselnden Schauers empfand, fast genau das gleiche Gefühl wie es ihn am Abend vorher überkommen hatte. Diesmal liess er es jedoch einfach geschehen, genoss diese sich ausbreitende Wärme im ganzen Körper und dieses Kribbeln auf seiner Haut. Er war sich sicher, sich nichts einzubilden oder irgendwie wahnsinnig zu werden, denn diesmal war wirklich ein geliebter Mensch wieder in seine Nähe, in sein Leben, getreten.

Michael zögerte nicht lange und schrieb Peter sogleich eine Antwort, nämlich dass es ihm prinzipiell jeden Abend ab halb acht Uhr gehen würde für ein Treffen und dass er sich sehr freuen würde, seinen verloren geglaubten Freund mal wieder zu sehen.

„Wow, was für ein Zufall, echt aber auch. Peter ist so ziemlich der letzte Mensch, von dem ich jetzt eine Nachricht erwartet hätte!“ schoss es Michael durch den Kopf. Ja, irgendetwas schien wirklich passiert zu sein, irgend ein Bann schien gebrochen zu sein, denn langsam fing Michael an, die Vergangenheit wieder an sich heran zu lassen, als Erinnerungen an die Zeit mit seinem alten Freund Peter in ihm aufkamen.

Das Klingeln der Schaltertüre des Betreibungsamtes unterbrach Michaels Gedanken für einen Moment, und bevor er sich ihnen wieder hingeben konnte, läutete auch schon das Telefon an seinem Arbeitsplatz. „Ja hallo Ralph?“ „Michi, da ist ne Frau für dich am Schalter, sie sagt, sie hätt nen Termin auf die halb neun bei dir?“ „Ah, ja, danke, Ralph, das wird wohl die Frau Hardmaier sein, ich komme gleich runter und kümmer mich um sie.“

Mit einem aufkeimenden Gefühl der Freude, ausgelöst durch Peters unerwartete Botschaft und die Geschehnisse des vergangenen Abends ging Michael die Treppe hinunter zum Schalter.
***
Zuletzt geändert von Drachenherz am Do 8. Jan 2009, 07:47, insgesamt 1-mal geändert.
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

In unserer heutigen Gesellschaft wird Erfolg oft an mehr oder weniger äusserlichen Faktoren gemessen. So gilt zum Beispiel jemand als erfolgreich, der es irgendwie zu Ansehen bei seinen Mitmenschen gebracht hat. Dabei kann dies rein materieller Erfolg sein, wie zum Beispiel eine erfolgreiche Karriere, mit all ihren Segnungen wie in einem Eigenheim zu wohnen, ein gutes Auto zu fahren und sich keine Sorgen mehr um das liebe Geld machen zu müssen. Oder man gilt auch als erfolgreich, wenn man im künstlerischen, philosophischen oder sozialen Bereich eine gewisse Berühmtheit erlangt hat, obschon materielle Reichtümer vorerst vielleicht noch ausblieben. Wiederum andere heben ein grosses soziales Netz als Zeichen eines erfolgreichen Lebens hervor, in welchem der persönliche Erfolg über den Freundes- und Familienkreis definiert wird.

In den Köpfen vieler Menschen hatte sich die Anschauung gebildet, dass erfolgreich zu sein immer in Relation zu anderen stehen müsse, was oft zu einer Art Outsourcing des eigenen Selbstwertes führt, denn anstatt sich selber einen Wert zu geben, wird diese Aufgabe gerne an andere delegiert.

Gemäss obigen Ausführungen war Selena alles andere als eine erfolgreiche Person. Sie legte keinen all zu grossen Wert auf Karriere, Berühmtheit oder einen grossen Freundeskreis. Dies sollte aber nicht heissen, dass Selena eine oberflächliche oder gar herzlose Person war, im Gegenteil, sie verfügte über eine natürliche Gabe, ihren Mitmenschen vorurteilsfrei und liebevoll zu begegnen. Ihre Eltern hatten ihr das seit ihrer Geburt in wahrer Liebe vorgelebt, sodass es regelrecht zu ihrer Natur wurde, jeden Menschen so zu nehmen, wie er nun einmal war, ohne ihn durch Manipulation verändern zu wollen. Dies war mit ein Grund, weshalb sie schon seit ihrer Kindheit in Frieden mit sich selber und mit ihrer Umwelt lebte, ohne sich bewusst mit Konzepten wie Religion, Spiritualität oder Philosophie befasst zu haben.

Ein weiterer Grund für ihre Zufriedenheit war auch, dass sie schon seit sie denken konnte irgendwie spürte, dass sie nicht allein auf dieser Erde war. Damit waren jetzt nicht die Menschen gemeint, welche sie um sich herum hatte, sondern sie nahm sehr lebhaft war, dass alles um sie herum lebte und von Bewusstsein erfüllt war. Bei ihren ausgedehnten Streifzügen durch die Natur fühlte sie, dass jede Pflanze, jeder Stein und alles in dieser Welt von Leben erfüllt war und ihr die Schönheit des Lebens durch dessen blosse Existenz offenbarte. Für Selena war dies ganz natürlich, und sie hatte sich nie gross Gedanken darüber gemacht, dass sie in der grossen Masse der Menschen dadurch etwas Besonderes war, denn sie kannte selber nichts anderes als diese Verbundenheit mit dem Leben und der Schöpfung.

Das Leben hatte es freilich nicht immer gut mit ihr gemeint, doch trotz all den Rückschlägen, die Selena in den gut 30 Jahren ihres Lebens bis anhin durchmachen musste, hatte sie sich die Härten des Lebens nie zu schwer zu Herzen genommen, weil sie intuitiv spürte, dass alles im Leben einen Sinn machte, selbst wenn er sich nicht immer sofort erschliessen mochte.

So trug Selena es auch mit Fassung, dass sie erst kürzlich ihren Job als Physiotherapeutin im Spital Uster wegen Umstrukturierungen des Pflegeangebotes verloren hatte. Für den Moment konnte sie sich gut mit den Zahlungen der Arbeitslosenkasse über Wasser halten, und wer wusste schon, wohin ihr Lebensweg sie weiterhin führen würde. Trübsal zu blasen lohnte sich also trotz widrigen Umständen nicht. Das Einzige, was ihr zur Zeit geringfügiges Kopfzerbrechen bereitete, waren die Schulden, die sie noch abzuzahlen hatte. Dank ihrer temporären Arbeitslosigkeit konnte sie seit einiger Zeit die monatlichen Raten für den Ferrari nicht mehr bezahlen, welchen sie vor gut zwei Jahren aufgrund einer Unaufmerksamkeit zu Schrott gefahren hatte. Ihr war beim Fahren eine brennende Zigarette auf den Sitz gefallen, welche sie schnellstmöglich wieder auffinden musste, bevor weiterer Schaden entstand. Sie hatte zwar verhindern können, dass die Zigarette ein Brandloch in den Sitz ihres Fahrzeuges brennen konnte, doch da sie durch das Suchen des heruntergefallenen Krebsstengels abgelenkt gewesen war, übersah sie das vor ihr zum Stillstand gekommene Fahrzeug und verursachte einen Auffahrunfall.

Es war natürlich nicht ihr eigener Ferrari gewesen, den sie bei ihrer Heimfahrt nach dem Ausgang reif für den Abbruch gezaubert hatte. Nein, sie selber fuhr damals einen uralten Peugeot 205, über den sie sich wunderte, wie er überhaupt noch durch die Motorfahrzeugkontrolle kommen konnte. Der Ferrari gehörte einem Banker, der wie Selena selber, beim Unfall zum Glück gesundheitlich nicht zu Schaden gekommen war, doch Motor und Fahrwerk des Ferraris waren leider nicht mehr zu retten, weshalb der Wagen als Totalschaden abgeschrieben wurde. Der Banker beharrte auf den Beizug der Polizei, damit diese den Unfall sachgemäss aufnehmen konnte, und da Selena wegen des Ausgangs noch Alkohol im Blut gehabt hatte, weigerte sich ihre Versicherung für den vollständigen Schadensbetrag aufzukommen. Daraus resultierte für sie die sysyphosgleiche Aufgabe, einen Schuldenberg von gut 70’000.-- Franken abzutragen.

Immerhin, auch dieser Unfall hatte etwas Gutes für Selena nach sich gezogen, denn seit jenem Ereignis hatte Selena keinen Schluck Alkohol mehr getrunken und mit einem Schlag mit dem Rauchen aufgehört. Dies waren zwei kleinere Laster gewesen, denen sie sich lange nicht hatte entziehen können, doch auch das hatte ihr Gemüt nie übermässig belastet, da sie immer der Meinung gewesen war, den richtigen Zeitpunkt zum aufhören zu gegebener Zeit dann schon zu nutzen. Und so war es dann tatsächlich ja gekommen.

„Ja, alles hat immer mehr als nur eine Seite,“ ging es Selena durch den Kopf, als sie an den Unfall zurückdachte. Jetzt galt es für sie herauszufinden, wie sich das Problem ihrer Schulden wohl lösen würde, und sie drückte die Klingel neben der Eingangstüre des Betreibungsamtes.
Drachenherz

Re: Der Prototyp

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Michael trat hinter den Tresen des öffentlichen Schalters und blickte hinüber in den Publikumsbereich des Betreibungsamtes. Es war ein kleiner Raum, vielleicht drei auf vier Meter Fläche, mit einem kleinen Salontisch in der hinteren Ecke, welcher von zwei abgewetzten schwarzen Ledersesseln flankiert wurde. Vom Schalter aus gesehen links befand sich der öffentliche Eingang, auf der rechten Seite führte eine Türe zu den nur hohen Eingeweihten zugänglichen Bereichen des Amtes. An der dem Schalter gegenüberliegenden Wand war ein Porträt eines alten römischen Kaisers aufgehängt, darüber eine kleinere Version der öffentlichen Beamtenuhr, wie sie praktisch in allen Amtsstuben des Kantons zu finden war. Sie zeigte mit ihren zwei schwarzen und einem roten Zeiger die Zeit sekundengenau an.

Mit dem Rücken zu Michael stand eine Frau, welche das Bild des römischen Kaiserkopfes genauer studierte. Eine kleine Bildunterschrift identifizierte den Kopf als denjenigen von „Titus Flavius Vespasianus“. „Seltsamen Humor haben die hier“, flüsterte die Frau vor sich hin. Auch wenn Michael sie momentan nur von hinten sehen konnte, schien sie irgendwie eine unerklärliche Faszination auf ihn auszuüben. Sie hatte schulterlange dunkelblonde Haare, trug eine braune Manchesterjacke und bequem aussehende Bluejeans sowie eine Handtasche aus beigem Manchesterstoff über der rechten Schulter. Michael kam auch nicht umhin, die Figur der Frau äusserst attraktiv zu finden. Michael liess seine Gedanken nun aber nicht weiter wandern, da er nicht dafür bezahlt wurde, diese Frau attraktiv zu finden, sondern um mit ihr ein paar finanzielle Angelegenheiten zu besprechen. Und ausserdem hatte er die Dame noch gar nicht von vorne gesehen, um ihre Attraktivität überhaupt abschliessend beurteilen zu können.

„Pecuniam non olet, Geld stinkt nicht,“ sagte Michael zu der Frau, welche ihn bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, worauf sie sich umdrehte und zu ihm an den Schalter kam. „Ich denke, Pecunia non olet, ohne „m“, wäre die grammatikalisch richtige Form für diesen berühmten Ausspruch Kaiser Vespasians, als er eine Steuer für die Latrinen im alten Rom erheben liess.“ erwiderte die Frau, mit einem schelmischen Lächeln auf ihren blassroten Lippen, als sie den verblüfften Ausdruck auf Michaels Gesicht wahrnahm, der von ihren Latein- und Geschichtskenntnissen sichtlich beeindruckt schien.

„Ah, ja, hmm... Sie müssen Frau Selena Hardmaier sein, nehme ich an?“ lenkte Michael geschickt ab. „Gestatten, mein Name ist Michael Felrot, ich danke ihnen, dass sie der heutigen Vorladung Folge leisten konnten.“ Er legte ein Aktenmäppchen vor sich auf den Tresen hin, welches mit „Selena Hardmaier“ beschriftet war. „Freut mich, Herr Felrot, und ja, ich bin Selena Hardmaier. Nun, was haben sie denn auf dem Herzen, dass sie mich heute hierher zu sich bestellen?“ fragte Selena und blickte Michael mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und einem kecken Blitzen in ihren Augen an.
Michael hob seinen Blick von dem Aktenbündel und er konnte sich dabei nicht erwehren, tief in Selenas braune Augen zu sehen. Dabei entging ihm nicht, dass Selena eine natürliche Schönheit ausstrahlte, ihr ungeschminktes Gesicht wirkte frisch und schon fast mädchenhaft, mit einem hellen Teint und einem leichten Ansatz von Sommersprossen auf ihren Wangen und ihrer Nasenspitze. Selenas Haar umspielte ihr Gesicht und verdeckte leicht ihren zart wirkenden Hals. Michael bemerkte, dass er Selena einen halben Augenblick zu lange anschaute, ohne es erklären zu können von ihrer Erscheinung bezaubert, und so sammelte er seine Gedanken, räusperte sich kurz und begann ihr zu erklären, warum er sie vorgeladen hatte.

Michael erläuterte ihr, dass im laufenden Betreibungsverfahren von ihrem Gläubiger das Recht gegen sie geöffnet wurde, was soviel hiess, dass die Betreibung, welche Selena pro forma mittels Rechtsvorschlag angefochten hatte, nun fortgesetzt werden konnte. Dies wusste Selana schon, da sie die entsprechende Verfügung vom Bezirksgericht bereits erhalten hatte.
„Nun Frau Hardmaier, leider ist es so, dass wir die Forderung von Herrn Winkelruth jetzt eintreiben müssen. Konkret bedeutet dies, dass wir zum nächsten Schritt des Betreibungsverfahren übergehen, in welchem eine Pfändung von ihren Wertsachen eingeleitet wird. Da dies in der Regel nicht wirklich ergiebig ist, muss wohl eine Lohnpfändung geprüft werden. Ich denke nicht, dass wir einen Sportwagen oder einen Haufen Goldbarren bei ihnen finden werden, oder?“ versuchte Michael die Situation mit einem Anflug von trockenem Beamtenhumor und einem zögerlichen Lächeln aufzulockern. Seltsamerweise fühlte er sich im Angesicht von Selena unwohl, er verspürte einen bis anhin nicht gekannten Widerwillen, seines Amtes als Betreibungsbeamter zu walten. Er kam sich irgendwie vor, als ob er einem kleinen Kind den Lutscher wegnehmen würde oder einem bedürftigen Menschen sein letztes Hemd. Ein Hauch von Schamgefühl überkam ihn, wie er es in seinem Beruf noch nie erlebt hatte, und er hatte Selena gegenüber gewisse Hemmungen, die Mühlen des Systems nun in Bewegung setzen zu müssen.
„Nein, ausser meinem Ferrari, welcher allerdings in seine Einzelteile zerlegt ist, werden sie bei mir tatsächlich nichts finden,“ scherzte Selena, was Michael gut tat, da es die Situation für ihn tatsächlich ein wenig entspannte. „Sie wissen aber, dass ich zur Zeit arbeitslos und auf Stellensuche bin, oder? Momentan erhalte ich gerade mal 80 % meines letzten Lohnes von der Arbeitslosenkasse, aber ich denke, dass ich bald eine neue Stelle finden werde. Das heisst, ich kann ihnen bzw. dem Herrn Winkelruth zur Zeit ausser einem Verlustschein nicht viel bieten.“ Michael war auf angenehme Weise berührt von Selenas Gelassenheit und Humor, den sie die in dieser Situation an den Tag legte, und er lächelte Selena an.
„Ich verstehe... Nun, wir müssen ihre finanziellen Verhältnisse natürlich noch genauer überprüfen, deshalb darf ich sie bitten, uns alle nötigen Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Es drängt sich auch noch ein kurzer Augenschein bei ihnen zu Hause auf, ob wir nicht doch noch einen Ferrari oder vielleicht ein Ölfeld bei ihnen zu Hause finden,“ sagte Michael, diesmal seinerseits mit einem schelmischen Blitzen in den Augenwinkeln und einem echten Lächeln auf den Lippen. Zu seiner Erleichterung lächelte Selena zurück, ungezwungen und ungespielt, und sie erwiderte nicht minder schalkhaft: „Ich werde ihnen selbstverständlich die nötigen Unterlagen bringen. Und sie können gerne mal bei mir vorbeikommen um zu sehen, was ich anzubieten habe. Vielleicht, wenn sie brav sind, gibt's sogar einen Kaffee.“ Sie blickte kurz verlegen zur Seite, vielleicht selber überrascht von der Mehrdeutigkeit ihrer Worte, und schlug dann wieder die Augen auf, und erneut trafen sich Michaels und Selenas Blicke, tiefer als zuvor.

Was nun geschah, kann nicht vollständig in Worten erklärt werden. Michael kam es vor, als ob sich ihre Blicke in einer elektrisierenden Intensität treffen würden, so als ob das Zusammenstossen zweier Seelen zu spüren war, in einer stillen, nicht wahrnehmbaren Explosion von Bewusstsein. Zeit und Raum verflossen, schienen um Michael herum stehen zu bleiben und sich aufzulösen, und es war, als ob sich der Raum um ihn herum zu entmaterialisieren schien. Es fühlte sich so an, als ob er in einem Augenblick an mehreren Orten zugleich wäre, und als ob er in diesem Augenblick mehrere Leben durchleben und dann sofort wieder vergessen würde. Michael sah Gesichter vor sich, Szenen aus verschiedenen Zeitaltern und von Orten, die er noch nie gesehen hatte, und er machte eine Reise durch das ganze Spektrum der menschlich möglichen Gefühle. Er sah Kinder vor sich spielen, er sah, wie Menschen geboren wurden und wie Menschen starben, und er schien sich an Geschehnisse zu erinnern, die ein Gefühl der Heimat in seinem Herzen entfachten. Und wieder war auch diese seltsame liebevolle Energie allgegenwärtig, deren Existenz er innert kurzer Zeit nun schon zum wiederholtem Male spürte, sie schien wie im Hintergrund gelegen alles zu beobachten und zu begleiten.

Nach einer scheinbaren Ewigkeit war alles wieder vorbei und Michael blieb nichts als eine vage Erinnerung, eine Erinnerung an etwas, was sich jeglichen rationalen Erklärungsversuchen zu entziehen schien, was nicht verwunderlich war, denn wie konnte mit dem Verstand erklärt werden, in einem Augenblick eine Ewigkeit zu erleben?

Er stand immer noch hinter dem Schalter, Auge in Auge mit Selena, welche ihn lächelnd anschaute und darauf wartete, dass er etwas sagen würde. Michael war verwirrt, er konnte sich nicht erklären, was soeben geschehen war, und es kamen auch Zweifel in ihm auf, ob überhaupt etwas geschehen war. Er sah auf die gegenüberliegende Uhr und stellte fest, dass kaum Zeit vergangen war. „Was war das denn gerade? War das ein Déjà Vu?“ ging es ihm durch den Kopf. „Es fühlte sich so an, als ob ich diese Situation nicht zum ersten Mal erleben würde, und als ob ich... Ach nein, ich glaub ich hab mir da einfach etwas eingebildet, ich glaube, ich muss mal ein wenig ausspannen, irgendetwas stimmt nicht mit mir...“

Michael bemerkte, dass er Selena immer noch tief in die Augen sah, und er senkte sofort den Blick. Ob sie wohl etwas bemerkt hatte? „Herr Felrot? Ich hoffe, ich bin ihnen mit meiner letzten Aussage nicht zu nahe getreten?“ fragte Selena, welche sich plötzlich wunderte, ob sie vielleicht ein wenig zu frech aufgetreten sei. „Entschuldigen sie bitte, ich muss irgendwie abgelenkt gewesen sein, welche Aussage meinen sie denn?“ fragte Michael zurück, immer noch in einem leichten Zustand der Verwirrung aufgrund des ihm unerklärlichen Erlebnisses nur einen Moment zuvor. Selena entschloss sich, nicht noch einmal zu erwähnen, was sie anzubieten hätte, sondern wiederholte noch einmal ihr Angebot für einen Kaffee, wenn Michael eine Bestandesaufnahme bei ihr zu Hause machen müsste. Normalerweise liess sich Michael nicht auf solche Angebote seiner Kundschaft ein, er wahrte immer eine gewisse berufliche Distanz, doch diesmal konnte er nicht anders, als einem möglichen Kaffee zuzustimmen. Es war ja immer noch die Bedingung, dass er brav sein sollte.

„Also Frau Hardmaier, sie hören noch von mir. Ich wünsche ihnen trotz allem einen schönen Tag und morgen ein schönes Wochenende.“ „Es hat mich trotz allem gefreut, sie kennen zu lernen, Herr Felrot.“ Selena drehte sich um und wollte zur Türe gehen, da machte sie noch einmal kehrt und sagte zu Michael: „Ach, übrigens... Das mit dem Kaffee war wirklich ernst gemeint.“ Mit einem schüchtern wirkenden Lächeln begab sie sich wieder zur Türe, öffnete sie und ging hinaus, bevor Michael ihr noch etwas sagen konnte.
Zuletzt geändert von Drachenherz am Mi 14. Jan 2009, 22:03, insgesamt 1-mal geändert.
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

Musste die letzte Szene ("Die Begegnungsszene") noch mal überarbeiten.

Manchmal ist's halt so, dass es auf dem Papier noch nicht ganz so ist, wie im Kopf, und dann muss man halt nochmal drüber. *grins*
Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Drachenherz »

Nach einem weiter nicht besonders aufregenden Arbeitstag begab sich Michael zur Abwechslung hinaus, um eine zu rauchen, anstatt die Luft in seinem Büro mit dem Gestank seiner Zigaretten zu verpesten. Ein Umstand, der ihm schon des öfteren schnippische Bemerkungen von Elvira eingebracht hatte, die eine militante Nichtraucherin war. Manchmal fragte er sich selber, wie er nur so rücksichtslos sein konnte, seinen nichtrauchenden Mitmenschen wie auch sich selber mit dem Rauchen zu schädigen, doch er war im Verlauf der Zeit ein grosser Meister des Selbsttäuschung geworden, weshalb er die gründlich ausgeprägte Fähigkeit besass, die meisten selbstkritischen Gedanken zu verdrängen.

Nun stand er jedoch draussen im Hinterhof des Betreibungsamtes und zündete sich eine Zigarette an, während die Sonne sich anschickte, an diesem Frühlingstag langsam wieder hinter den Dächern der umliegenden Häuser zu versinken. Sie hatte schon den ganzen Tag mit den sich nur langsam verziehenden Wolken zu kämpfen, und erst jetzt schien sie einen kleinen Sieg zu erringen. Ein paar zögerliche Sonnenstrahlen fielen auf sein Gesicht, und sie gaben ihm die Kraft, sich endlich einmal wieder bewusst dem Strom seiner Gedanken zu stellen, in welchem er sich viel zu oft nur hatte treiben lassen. Er hatte es sich in seinem Leben bequem gemacht, er hatte sich vom Konsum verführen lassen und sich ihm hingegeben, um in einer angenehmen Betäubtheit vor sich selber fliehen zu können.

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, während er die vergangenen knapp 24 Stunden noch einmal an sich vorbeiziehen liess. Er war sich ziemlich sicher, sich nichts eingebildet zu haben oder vom Alkohol so vernebelt gewesen zu sein, dass er halluziniert hatte. Nein, was er empfunden hatte, was er gespürt und auch gehört hatte, hatte er so real empfunden, wie jetzt hier im Hinterhof zu stehen und eine Zigarette zu rauchen. Bei dieser Stimme jedoch, welche er in seinem Kopf hörte, nagten gewisse Zweifel an ihm, sodass er sich bis zu einem gewissen Grad doch fragte, ob er sich noch auf dem Gebiet der Normalität bewegte oder in eine Form der Schizophrenie abzudriften drohte. Woher kam sie, und wie konnte er sich sicher sein, nicht doch bloss Selbstgespräche zu führen?

Michael konnte nicht genau sagen, warum ihm dennoch klar war, dass das Bewusstsein hinter diesen Gedanken, die so plötzlich in seinem Kopf auftauchten, nicht sein Eigenes war. Als er weiter darüber nachdachte, konnte er wieder spüren, dass da „etwas“ gegenwärtig war, eine Art von bewusster Energie, die ihn zugleich umgab und auch erfüllte, und zögerlich richtete er in Gedanken eine Frage an diese Energie: „Bin ich dabei, den Verstand zu verlieren, oder ist da wirklich jemand?“

Als Antwort folgte Stille. Eine auffällige Stille. Denn Michael hörte für einen Augenblick nicht einmal mehr das Rauschen seiner eigenen Gedanken, was ungewöhnlich war, denn es gingen ihm sonst immer unzählige bewusste wie auch unbewusste Gedanken durch den Kopf. Er erlebte gerade einen Augenblick seltener Klarheit, der einem Menschen einen Einblick in die Existenz des eigenen Selbst ermöglichte.

In diesem kurzen Moment der plötzlichen Bewusstheit erschien das Bild von Selena Hardmaier vor Michaels innerem Auge, in einer Deutlichkeit, wie sie untypisch für Erinnerungen war. Er sah ihre Gesichtszüge vor sich, ihr frech-freundliches Lächeln, und er vermochte sich nicht erwehren, eine tiefgehende Vertrautheit ihr gegenüber zu empfinden. Irgendwie hatte er das Gefühl, Selena schon länger zu kennen, doch er schob diesen Gedanken wieder von sich, denn er war sich sicher, Selena vor der Begegnung am heutigen Morgen noch nie getroffen zu haben.

„Vertraue auf deine Gefühle, aber lass dich nicht von ihnen verleiten,“ hallte es plötzlich in seinen Gedanken, und er erschrak ein wenig ob der „Lautheit“ dieser Worte, wobei „Lautheit“ nur eine äusserst vage Umschreibung für die Intensität war, mit welcher sich die Stimme in seinem Kopf zu Wort meldete. Langsam schien sich Michael jedoch daran zu gewöhnen, oder vielmehr sich damit abzufinden, die Gegenwart eines fremden Bewusstseins in seinem Eigenen wahrzunehmen.

„Na, da bist du ja. Es mag seltsam anmuten wenn ich dir das jetzt sage, aber es ist irgendwie schön dich zu hören,“ wandte sich Michael an die in seinen Gedanken anwesende Energie. „Es fühlt sich zwar etwas ungewohnt an, wenn ich mich mit mir selber zu unterhalten scheine, doch ich denke, ich werde das wohl packen müssen. Solange du mir einfach nicht einreden möchtest, wahllos Leute abzuschlachten oder kleine Kinder zu quälen, kann es vermutlich nicht all zu schlimm sein, mit dir zu reden. Wenn ich ehrlich bin, tut es mir sogar irgendwie gut, mit dir zu quatschen, denn ich fühle mich dabei besser als bei vielem anderen, das ich tue.“ „Dein Vertrauen erfreut mich ungemein, und sei dir gewiss, ich werde es nicht missbrauchen. Es liegt mir fern, etwas gegen deinen eigenen Willen zu unternehmen oder dich auf irgendeine Weise manipulieren zu wollen,“ tönte es in Michaels Gedanken. „Ich bin da für dich, in bedingungsloser Liebe, wann immer du mich brauchst.“

Michael realisierte, dass sich diese Energie, oder war es doch ein Wesen, mit diesen Worten verabschiedet hatte. Obwohl sich die Energie nicht mehr in seinem Bewusstsein manifestierte, so fühlte er doch die Gewissheit, dass sie immer noch da war. Diese letzten Worte hatten Michael tief in seinem Innersten berührt, sie brachten eine Saite seines Wesens zum klingen, die ihm bis jetzt verborgen geblieben war, und Dankbarkeit erfüllte ihn. Dankbarkeit, dass er nach einer so langen Zeit in Dunkelheit wieder einen Schimmer von Licht empfangen durfte, und es war, als ob die Mauer, die er in den vergangenen Jahren um sein eigenes Selbst errichtet hatte, weiter zu bröckeln schien.

Just in diesem Moment ging die Hintertür des Betreibungsamtes auf, und Elvira trat in den Hinterhof, wo Michael gerade seine so eben fertig gerauchte Zigarette im grossen Standaschenbecher neben der Türe ausdrückte. „Hier steckst du also, Michi. Es ist schon fast viertel nach Vier, bald Feierabend. Kommst du nachher noch kurz was trinken, oder zieht es dich sofort ins Wochenende? Irgendwie mag ich heute nicht sofort nach Hause gehen, und wir zwei sind schon lang nicht mehr ein Bier miteinander trinken gegangen. Ralph ist übrigens schon nach Hause gegangen, du müsstest dich also mit mir alleine abgeben. Was hältst Du davon?" Michael wurde durch Elviras Erscheinen und ihre Frage wieder zurück in die Gegenwart geholt. Nach kurzem Überlegen antwortete er: „Hmm... Warum eigentlich nicht, in der Tat, das haben wir schon lange nicht mehr gemacht, wir haben schon lange nicht mehr miteinander geredet. Also gut, gehen wir nachher noch in die "Keller"-Bar. Ich muss noch kurz etwas erledigen, dann können wir Feierabend machen.“ Ein wenig überrascht, dass Michael ihre Anfrage nach einem kurzen Drink nicht wie üblich abgelehnt hatte, sagte Elvira "ok" und ging wieder zurück ins Gebäude. Als Elvira wieder verschwunden war, wanderten Michaels Gedanken noch einmal zu dieser Energie zurück, welche es sich die letzten Stunden zur Gewohnheit machen schien, sich in seinen Gedanken zu manifestieren. „Ich darf einfach niemandem von diesen Erlebnissen erzählen, denn dann würde ich wohl ziemlich schnell als Spinner oder geisteskrank abgestempelt.“

Er begab sich zurück in sein Büro, erledigte noch ein liegen gebliebenes Schreiben und checkte ein letztes Mal seine Mails. Zu seiner Freude war eine Antwort von Peter eingegangen, welche Michael sogleich öffnete. Peter schlug vor, sich mit ihm am kommenden Sonntag um Mittag in Zürich zu treffen. Zur Sicherheit hatte er noch seine Handynummer mitgeschickt, falls noch kurzfristige Terminänderungen anstehen würden, weshalb ihm Michael eine SMS zur Bestätigung des Treffens am Wochenende schickte, sodass auch Peter seine Telefonnumer hatte.

Dann packte er seine Sachen zusammen, es war kurz nach fünf Uhr, schnappte sich seine Jacke und zusammen mit Elvira begab er sich in die "Keller"-Bar für ein Feierabendbierchen und wohl ein bisschen oberflächlichen Smalltalk.
Zuletzt geändert von Drachenherz am Di 20. Jan 2009, 07:19, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Der Prototyp

Beitrag von Elias »

Spannend :o
http://www.vimeo.com/elfilmias
http://www.youtube.com/elfilmias

Wage du, zu irren und zu träumen! Hoher Sinn liegt oft in kind'schem Spiel.
(Schiller)
Zachariel Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Zachariel Drachenherz »

Und wie bitte schön geht's weiter?????
u.s.l.

Re: Der Prototyp

Beitrag von u.s.l. »

Zachariel hat geschrieben:Und wie bitte schön geht's weiter?????
und wer - bitte schön - könnte diese frage beantworten?
Zachariel Drachenherz

Re: Der Prototyp

Beitrag von Zachariel Drachenherz »

Hmmm, muss wohl dem ollen Dracho mal ein mail schreiben... /frage
crazyeye
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