Sagen wir es mal so: Jeder Tag kann uns weiter bringen auf dem Weg zu einem spirituelleren Leben. Und, das ist völlig klar, der Weg ist natürlich das Ziel. Nachdem ich lange mit mir selbst gerungen und mich gefragt habe, was ich hier eigentlich tue und ob ich wirklich Landwirt werden will, den Bettel schon fast hingeworfen hätte, schon den Gedanken hatte, einfach die wichtigsten Sachen zu packen und mitten in der Nacht den Hof zu verlassen und nicht mehr auffindbar zu verschwinden, nach all den Jahren des inneren Zweifels und der totalen Identitätskrise hat es irgendwie Klick gemacht. Jedenfalls teilweise. Ich mache diesen Job einfach. Und ich nehme alles als nötig an, stelle nichts mehr alles in Frage. Die Welt ist nunmal nicht perfekt. Es bringt nichts jeden Tag aufs Neue alles zu verfluchen. Das fördert nur die negativen Energien und das bringt mich nicht weiter. Besser ist es, die positiven Energien zu fördern, denn diese strahlen in die Welt hinaus und verbessern so die Welt, indem ich mich besser fühle und da mein Energiefeld ja weit über meinen Körper hinausreicht, wird es auch meine Umwelt beeinflussen.
Um meine Spiritualität und mein inneres Gleichgewicht zu fördern praktiziere ich seit zwei Wochen jeden Morgen nach dem Aufwachen und jeden Abend vor dem Einschlafen Obertongesang. Nur ein paar Minuten, das reicht schon und bringt enorm viel. Obertongesang braucht sehr viel Übung, damit die Obertöne hörbar werden und eines Tages lauter werden als der Grundton bis irgendwann der Grundton gar nicht mehr zu hören ist. Ich bemerke schon erste Fortschritte, was den Gesang angeht und auch meine innere Ausgeglichenheit.
Zudem habe ich nach einem Mantra gesucht, das mir entspricht. Ich habe "Om Gam Ganapataye Namaha" gewählt, ein Mantra, das Ganesha gewidmet ist:
"Ganesha" heißt wörtlich "Herr aller Engelwesen". Ganesha hilft, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen für einen immer wieder neuen, guten Anfang. Er verkörpert auch die höchste Weisheit. Wer dieses Mantra rezitiert, kann spüren, dass er immer die Kraft hat, zu tun, was nötig ist, und dass die Ganesha-Energie als Lichtenergie in diese Welt durch ihn hindurch strömen will. Er sieht alles in der Welt als Aufgabe von Ganesha, an der er wächst. Ganesha will ihn zur höchsten Weisheit, Erkenntnis und Verwirklichung führen."
Ich habe es heute auf dem Traktor wie auch beim Melken gesungen (im selben Ton wie der Ton der Melkmaschine). Auch die Kühe haben positiv darauf reagiert, hatte ich den Eindruck. Liegt es wohl daran, dass das Mantra aus einem Land stammt, in dem Kühe heilig sind?
Interessanterweise war der Bruder der Bäuerin gerade in genau derselben Phase wie ich. Er ist mir sehr ähnlich und ich habe in den letzten Monaten viele gute Gespräche mit ihm geführt. Er wohnt seit Sommer in einem Wohnwagen auf dem Hofgelände. Eigentlich hätte er eine Anstellung auf dem anderen Hof wo ich arbeite beginnen sollen, erschien aber mehrmals nicht bei der Arbeit und war irgendwann nicht mehr auffindbar. Er war davongelaufen, erfuhr ich später. Irgendwann tauchte er wieder auf. Mittlerweile hat er sich selbst in die psychiatrische Klinik eingewiesen.
Dass dieser Mensch genau gleichzeitig in der selben Phase war wie ich, den Gedanken, davonzulaufen aber durchgezogen hat, hat mich innerlich erst recht dazu bewogen, das eben nicht zu tun. In einer gewissen Weise hat er mir indirekt geholfen. Interessant, welche Fügungen das Leben einem manchmal bereitet. Dass er nun in der psychiatrischen Klinik ist war seine Entscheidung. Meiner Meinung nach wäre das nicht nötig. Er ist ein sehr guter Mensch. Ein Retreat würde ihm wohl mehr helfen.
Ich habe mich in letzter Zeit oft gefragt, was denn die wirklichen Vorteile für das Leben sind, so extrem sensibel zu sein wie ich und auch wie der Bruder der Bäuerin. Ich bin zum Schluss gekommen, dass weniger sensible Menschen Gewichte, die die Seele belasten viel länger nicht an sich heranlassen und irgendwann eine wirklich grosse Krise machen. Sensible Menschen haben eine dünnere Hülle zwischen dem Unterbewusstsein und dem oberen Bewusstsein, darum kommen die Gewichte portionenweise an die Oberfläche und führen immer mal wieder zu kleineren Krisen, die aber viel besser gemeistert werden können.
Jedenfalls...bin ich zurück auf dem Weg und ich gehe ihn, glücklich und zufrieden. Ich bin dankbar für meine innere Stimme, die mir im richtigen Moment das Richtige sagt.