Regen

Mysteriöse Erfahrungen, Weisheiten, Rätselhaftes.
Antworten
illusion
Platin Member
Platin Member
Beiträge: 1112
Registriert: Mo 19. Sep 2011, 08:33
Wohnort: hab ich

Regen

Beitrag von illusion »

Worauf es wirklich ankam, wusste niemand so genau. Die einen schauten zu tief ins Glas, als dass sie etwas an der Sache verändern konnten, andere waren zu sehr uneinz, um sich frontal zu stellen. Das Irritierende war, dass es Ausmasse angenommen hatte, die niemand mehr überschauen konnte, und die Wirkung zu verheerend wurde, je länger man zuzusehen verpflichtet war. Und doch kamen allen gewisse Zweifel auf, weil sie weder ihr Tun vor sich verantworten konnten, noch das Tun anderer endgültig verurteilen. Jedenfalls schien eine rasche Lösung des Problems noch lange ausser Sichtweite, weil es zu viele Individuen mit eigenen Sichtweiten gab. Und da war auch dieses Unding namens Gewissen. Ein unnützes Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen, da sich die Welt der Menschheit dahingehend entwickelt hatte, aus dem einen Reih ins andere Glied zu stolpern, ohne dabei zu sehr aufzufallen oder irgendwo zu fest von dem abzuweichen, was die Mehrheit als Norm zu betrachten pflegte.

Inzwischen hatte das Tier Ausmasse angenommen, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Es gab durchaus noch Menschen, die an eine bessere Welt glaubten, doch die waren trotz Überzahl am kürzeren Hebel. Die Anonymität war nirgends länger vorhanden, denn die Information als Solches hat auch eine Kehrseite, nämlich die der Desinformation. Die Brutstätte des Grenzen-, Geschmack- und Morallosen wurde immer öfter dazu missbraucht, es noch grenzen-, geschmack- und moralloser zu machen. Jeder Idiot, der dabei mitmachte, wurde unverhofft zu einem Mitwisser, einem „Zur-Schau-Steller“, einem sich immer mehr verlierenden in den Weiten des WWW.
Es ging dabei nicht primär darum, "Etwas" oder "Jemand" zu sein, was oder wer man nicht ist und war. Nunmehr galt es, das Ganze als eine Art Sucht anzuerkennen, die einen beträchtlichen Teil der eigenen Zeit - und somit des eigenen Lebens - in Anspruch nahm. Dabei wurde von vielen vergessen, gar regelrecht verdrängt, dass sie im Grunde ihr eigenes Leben gegen Voyerismus (auch das Leben anderer) und Datensucht zu ersetzen. Manche waren von der Veranlagung her schon prädestinierte Opfer, weil ihr Filter im Kopf, der Unnützes vom Nützlichen im Normalfall trennte, nicht gewappnet war für die stete Reizüberflutung, der sie sich aussetzten. Sie "sich".
Diejenigen, die eingeweiht waren, waren im Vorteil, weil sie wussten, worauf sie achten mussten. Die restlichen waren entweder auf Bekanntschaften angewiesen, die ihnen dabei halfen, den Schutz aufrecht zu erhalten, oder sie schafften es aus eigener Kraft Grenzen zu setzen. Und manche verloren den Teil ihres Selbst, der von der Masse als Verstand betittelt wurde. Manchmal war nicht ganz eindeutig, ob Diese eher zu beneiden, oder zu bemitleiden waren. In beiden Fällen gab es mehrere Fürs und Widers. Und Beides hätte ihnen weder wirklich geholfen, noch ernsthaft geschadet.

Inzwischen waren sich die Hauptinitiatoren nicht länger einig, ob das, was sie da aus dem Boden gestampft hatten, wirklich das Richtige war. Bei allem Respekt vor dem Aktivismus mussten sie sich eingestehen, dass das System auch Fehler hatte. Und einer der grössten war der Faktor Mensch. Seit dem Börsengang im Jahr 2008 hatte sich so vieles am Internet selbst getan, sodass der oberste Drahtzieher sich durchaus wünschte, er hätte nie eine solche Seite erschaffen. Diejenigen, die dachten, ihre Ip`s seien noch verschlüsselt unterwegs, befanden sich in grossem Irrtum. Vielleicht im grössten ihres Lebens. Die Firmen, die damit ihr täglich Brot verdienten, hatten es nicht ausgelassen, auch an die Enschlüsselungscodes zu denken. Die Umkehrfunktion, sozusagen. Und sie waren stets im Vorteil. Es reichte vollkommen aus, Leute früh genug in solche Firmen einzuschleusen, um sie danach durch Erpressung, Verleumdung oder einfach stets wachsenden Druck von aussen, für eigene Zwecke einzuspannen, weil ihnen keine Wahl übrig blieb. Microsoft und Apple beteiligten sich in etwa zu gleichen Teilen an jeglichen Geschäften, die in Richtung Chips und Software gingen, was jedoch nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, weil es über Tochtergesellschaften oder verbündete Firmen lief.

Da sass er. Er wusste nicht so genau, was von ihm erwartet wurde, wer die Männer waren, die sich für sein Talent so interessierten, und auch nicht, weshalb er ein Jahressalär angeboten bekam, welches dasjenige seines Vaters um ein Vielfaches übertrumpfte. Zwei Männer traten in den Raum ein, wovon einer davon war kein unbeschriebenes Blatt war. In der Szene war er ein Idol, ein Spezialist für ausweglose Situationen, sowas wie Fawkes, ein Rebell sondergleichen, ein Querdenker, einer, der bei den Freimaurern irgendwann an den höchsten Meistergraden herum gekratzt hätte, vorausgesetzt, er wäre einer von ihnen. Der Mann bot ihm einen Sesselplatz- und der Unbekannte Kaffe an, bemerkte aber seinen Irrtum selbst, noch bevor eine Antwort kam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vierzehnjähriger weder Kaffee trank, noch rauchte, war selbst heutzutage nicht sehr hoch. Stattdessen brachte er Orangensaft, Mineralwasser und Kekse. Die Kekse waren dabei eher von symbolischem Charakter, interessierte aber niemanden der Anwesenden wirklich. Was wirklich interessierte, war, ob sie sich einig werden konnten. Einig über den Preis. Den Preis, der einerseits Stillschweigen sondergleichen garantierte, weil vertraglich festgelegt, andererseits die Erwartungen der Arbeitgeber, auch mit keinerlei Daten über die Arbeit zu notieren. Jedenfalls ausserhalb des noch zuzuweisenden Büros.
Nach drei Stunden Gespräch, hin und her zwischen Fangfragen, testähnlichem Vorgehen, Fragen über Vergangenheit und Bekanntenkreis, die woanders erst gar nicht zulässig gewesen wären, bekam er einen 30 Seiten umfassenden Vertrag vorgesetzt. Nicht nur, dass er manche Worte und Zusammenhänge nicht verstand – die Welt der Buchstaben war nie so wirklich die Seine gewesen - er wusste, dass alles klein Geschriebenes war. Er hatte beim Lesen das Gefühl, all das sei nur ausgearbeitet, um ihm möglichst viele Fallen zu stellen. Seine Vorliebe für Zahlen, Programme und deren eigenen Regeln, all die Nadeln in den Heuhaufen, und sich in etwas so verbeissen zu können, bis es gelöst oder geknackt war – deswegen war er hier. Deswegen wollten sie ausgerechnet ihn. Das war ihm bewusst. Es war ihm aber auch bewusst, dass er gezwungen wurde, mitzumachen. Es ging um Leben und Tod. Und für die Welt, wie sie bald werden würde, wenn er durchkam, für weitaus mehr, als er sich vorstellen in der Lage war. Er setzte seine Mischung aus Zahlen und Buchstaben unten links auf das letzte Blatt. Damit war sein Schicksal besiegelt. Für den Fall, dass es das nicht schon war.

Ein paar tausend Kilometer weiter südöstlich prasselte der Regen an die Scheibe des Schrägdachs. Das grösste Zimmer der Attikawohnung war zum DVD-Raum umfunktioniert, direkt an den Serverraum angrenzend, der keine Tür besass. Zwischendurch erhellten unwirkliche Farben die eher spartanisch anmutenden vier Wände, sowie das breite Sofa, auf dem leicht und locker vier erwachsene Personen Platz nehmen konnten. „Ihr Amerikaner habt den Regen schwarz gemacht.“ Bei diesem Satz schien Johnny wie hypnotisiert. In letzter Zeit verschwendete er die meisten seiner Tage damit, sich entweder mit billigem Whiskey abzufüllen, irgendwelche Ego shooter-Spiele fertigzumachen, oder dem Regengeplätscher zuzuhören. Er hatte sich schon länger vom gesellschaftlichem Leben aller Art verabschiedet. Seine Bekannten fragten sich oftmals, weshalb Johnny seit geraumer Zeit nichts mehr mit ihnen abmachen und unternehmen wollte, und am Telefon höchstens wage Auskunft gab. Manche vermuteten, er sei erkrankt, doch niemand getraute sich ihn danach zu fragen. Er hatte genug von der Welt, wie sie war, genug Nachrichten geschaut und Zeitungen gelesen, genug lange Steuern bezahlt, ohne einen Sinn darin zu entdecken.
Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Ihm war, als hätte er gewusst, dass dieser Regen nicht wie die anderen war. Er wollte Kontakt zur Traumweberin aufnehmen. Dieser brach vor einigen Monaten abrupt, weil die Mc Donalds-Filiale sich als unsicher für den Zettelaustausch entpuppt hatte. Jedenfalls war er sich nicht ganz sicher, ob eine Putzfrau zufällig den erwarteten Brief unter dem Lavabo gefunden und entfernt hatte. Vielleicht nicht ohne ihn dem Filialleiter zu zeigen, doch das war nicht das furchterregendste Szenario, das in Frage kam. Vielleicht hatten die gegnerischen Truppen durch Spione von der Sache Wind bekommen. Vielleicht war der Traumweberin auch etwas zugestossen, bevor sie ihre Visionen auf Papier gebracht hatte. In jedem Fall war die Sache nicht zu unterschätzen. Er beschloss, sich auf die Suche zu machen. Er wusste nur, wen er nach ihr fragen konnte. Doch wem konnte er noch wirklich trauen. Die Welt war so oder so schon ein verrückter Haufen Chaos, ein undurchdringbarer Dschungel aus Normalos, Verschwörern oder einer Mischung der beiden Zustände. Er zog an der Schublade im Wohnzimmer, nahm die noch nicht geladene 92-er Beretta sowie zwei Magazine an sich, Dinge, die er von seinem Grossvater geerbt hatte, bevor er regelrecht aus der Wohnung stürmte. Es wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen, hätte er sich eingestanden, dass er keinen Plan hatte, wen er als erstes aufsuchen sollte. Von den meisten, die er hätte ausfragen können, hatte es sowieso weder Nummer, noch Adresse.

Der erste Arbeitstag verlief sang- und klanglos. In der Firma schienen nur Freaks ihr Unwesen zu treiben, was irgendwie zum guten Ton zu gehören schien. Der schon zu genüge verwirrte Junge sah sich inmitten einer als eine Art Zentrale fungierenden Ansammlung von breiten Bürotischen und ungewohnt grossen Bildschirmen darauf gezwungen, sich zu unters einzugliedern. Er versuchte in der Pause ein paar jüngeren Mitarbeitern ein paar Worte zu entlocken, wurde aber bloss schief angeschaut. „Das muss also der neue sein.“ -sagte einer von ihnen wohl mehr zu sich selbst, nachdem sich die anderen verzogen hatten. Sein Gesicht war mit Pickeln in unterschiedlichsten Farben und Formen übersät, und sah nicht gerade wie ein Genie aus, was in diesem Laden irgendwie gar nicht überraschte. Sein heller Taint war zudem übersät von Sommersprossen, die sich regelrecht um die besten Plätze abzumühen versuchten. Er selbst wirkte vermutlich noch etwas jünger, als er auf die Aussenwelt wirkte.
„Ich bin Mitch“- sagte der junge Mann. In seinem Tonfall schwang etwas menschliches mit, vermutlich zum ersten Mal seit Tagen das einzig solche, was William zu Ohren kam. Die Beiden schlenderten entlang einiger Tischreihen, die irgendwie in einem System aufgestellt waren, welches aber niemand auf den ersten Blick erkennen konnte. Vorbei an Schlipsträgern und in unmögliche Freizeitklamotten eingehüllten jungen Männern, vorbei an Sekretärinnen und einem Sicherheitsmann, Vorbei an den Pflanzen, die etwas dschungelhaft anmuteten, an allem vorbei, nahmen sie am hintersten Tisch platz. Draussen sah es nach nahendem Sturm aus, an manchen Stellen des Himmels hatten sich düsterere Regionen gebildet, eingebettet in ein durch und durch fahles Grau, doch das störte im vollklimatisierten Büro anscheinend niemanden. Die Kantine befand sich im achten Stockwerk des modernen Gebäudes, was einen eher spärlichen Blick auf die Umgebung zuliess, was an den höheren Gebäuden im Umfeld lag. Weiter unten gab es nur wenige grüne Stellen zwischen den Hochhäusern und Pflastergestein.
„Wie lange bist du schon hier?“-fragte Will. „Drei Jahre. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag hier. Es war Sommer. Mir kam der Tag wie eine Ewigkeit vor. Danach verging die Zeit wie im Flug.“ Das Eis schien definitiv gebrochen und Mitch schien nicht verschlossen, im Gegenteil: Er genoss sichtlich, mit jemandem reden zu können. „Ich arbeite oft in der Nacht. Manchmal bis zu 14 Stunden. Dann sind weniger Leute da und der Mann vom Sicherheitsdienst schaut bloss fern.“- da grinste er. „Tagsüber wird man zwar auch in Ruhe gelassen, ich bin es aber gewohnt, bis spät in den Morgengrauen vor dem Bildschirm zu sitzen. Nur das mir früher keiner etwas dafür bezahlt hatte.“ Mitch entpuppte sich als ein offener, sympathischer Zeitgenosse. Er erzählte von dem, was er hier machte, sie Beide wechselten von einem Gesprächsthema zum nächsten, bis Mitch`s Blick auf der Personalkarte seines Gegenübers hängen blieb: „Sag mal, Will, weshalb hast du das Orange Ticket?“ Will hatte keine Ahnung, was die Farbe zu bedeuten hatte. Ihm war zwar nicht entgangen, dass nicht alle Firmenausweise dieselbe Farbe aufwiesen, er hätte sich aber nicht getraut, jemanden mit einer solchen Frage zu belästigen. „Ich weiss nicht. Hab nur den bekommen.“ Sein Blick wanderte auf die linke Seite seiner Brust und blieb bei den verkehrt scheinenden Buchstaben seines Namens. Hat die Farbe etwas zu bedeuten?“ Die Frage war rhetorisch gemeint. „Klaro!“ schien Mitch staunend zu erwidern, „Du hast mit Orange überall zutritt. Ausser auf der Neunzehnten. Du darfst sogar in den Serverraum. Das dürfen hier nicht viele. Und du weisst nicht, warum du als Neuling fast zuoberst einsteigen darfst?“ „Nein. Vermutlich wurde versäumt, es mir mitzuteilen.“ Mitch konnte das fast nicht glauben, obwohl; dies war durchaus nicht das Erste und Einzige, was er in diesem Laden nicht so recht glauben konnte. Mittlerweile stellte er eher alles irgendwie in Frage.
Zuletzt geändert von illusion am Do 19. Jan 2012, 18:59, insgesamt 3-mal geändert.
there is nothing real outside our perception of reality
Benutzeravatar
nexus
Platin Member
Platin Member
Beiträge: 1993
Registriert: Mi 7. Nov 2007, 15:08
Wohnort: am See

Re: Regen

Beitrag von nexus »

sein bedeuted zunächst dasein, existenz, in der welt sein, gegebensein. dabei ist besonders zwischem realen und idealem sein zu unterscheiden. reales sein wird oft als existenz, ideales als essenz bzw. essentia (-> wesen) bezeichnet. reales sein ist das von dingen, geschehnissen, personen, taten usw., denen realität zukommt; es ist raumzeitlich, individuell, einzig; ideales sein entbehrt der zeitlichkeit, wirklichkeit, erfahrbarkeit, es hat nie den charakter des einzelfalles, ist streng beharrend, immer seiend. ideales sein in diesem sinne besitzen die werte, die ideen, die mathematischen und logischen begriffe.gegenüber dem mannigfaltigen, wechselnden, werden bezeichnet "sein" das beharrende, bleibende, in allem identische; gegenüber dem oft als abgeleitetes sein aufgefassten "schein" das "wahre" sein nach den eleaten gibt es kein werden, sondern nur ein sein, ungeworden, unvergänglich, einheitlich, ewig, unbeweglich, stetig, unteilbar, identisch mit sich selbst :-"
Liebe Respekt Anarchie
Benutzeravatar
Weltenseglerin
Platin Member
Platin Member
Beiträge: 291
Registriert: Mo 25. Okt 2010, 12:22

Re: Regen

Beitrag von Weltenseglerin »

akupunktur ;)

:ove:
lilith... riding on the storm...

*´¨)
¸.•´¸.•*´¨) ¸.•*¨)
(¸.•´ (¸.•` ¤
deep peace
illusion
Platin Member
Platin Member
Beiträge: 1112
Registriert: Mo 19. Sep 2011, 08:33
Wohnort: hab ich

Re: Regen

Beitrag von illusion »

In der Zwischenzeit waren Jahre vergangen. Jahre voller wundergleicher Geschehnisse, düsterer Abgründe, Kämpfe auf Leben und... Leben. Manchmal war nur ein kleiner Teil dessen sichtbar, was war. Dazu noch abhängig von der Fähigkeit des Betrachters, zu sehen. Obwohl das mit den Büchern, die geschrieben wurden, meist schon eine Abweichung in sich trägt zwischen denen, die sie schreiben, und den Lesern. Gut gschriebene Bücher laden förmlich dazu ein, sich in sie eintauchen zu lassen, zu verschmelzen, Grenzen verwischen zu lassen, zwischen dem Erleben auf der Couch, (oder vor dem Bildschirm) und der tatsächlichen Vermischung aus Illusion und Realität. Gefesselt zu sein vom Schreiber, bis die schmale Spur zwischen dem und ihnen unbedeutend wird, in jener Welt keine Trennung nötig ist, keine Unterscheidung zwischen Schreiber und Leser. Wo die Chronologie keine Rolle mehr spielt, Namen oder Pseudonyme überflüssig, Du und ich das Eine und das Selbe sind, oder sich zumindest so anfühlen. Ob die Geschichte als gut oder schlecht empfunden wird, ist oft eine Frage, die selbst der Leser nicht befriedigend und abschliessend - vermutlich nicht einmal sich selbst - beantworen kann. So, als hätte man in der Zwischenzeit Zeit gewonnen, oder auch vertan. Als wäre im Gelesenen ein Teil eines Selbst gefunden, hinzugewonnen, verloren, oder vergeudet gewesen. Modernere Bücher scheinen kürzer und wesentlicherer geworden zu sein. Kompakter. Aber; womöglich scheinen sie das bloss. Wählen Sie mit Bedacht, für welche fremde Fiktionen und/oder Geschichten Sie einen Teil Ihres Lebens eintauschen - einen Teil dessen, was Sie in der Zwischenzeit selbst erleben könnten.

Kühl war der Raum in jenen neutral gestrichenen, beigen Zimmern. Der Luxus, den ein per Knopfdruck verstellbares Bett mit sich brachte, war aufgewogen durch die Einsamkeit, die in diesem Raum herrschte. Geräusche modernster Überwachungsgeräte täuschten nicht über die Trostlosigkeit hinweg, die sich in diesem Reanimationsraum bis in jedes Luftmolekül ausgebreitet hatte. Noch zu beträubt, um schlagartig die Narkose hinter sich zu lassen und gegen Wachheit einzutauschen, sass er fast im rechten Winkel angelehnt an die zwei bequemen Kissen angelehnt. Ein dunkler Schleier löste sich langsam vor seinen Augen, durchdrungen von beissenden Schmerzen in seinen Beinen. Offene Wunden glühten feuerrot, eher schlecht, als recht verdeckt durch blutdurchtränkte Gazenfetzen, die vermutlich von einer noch auszubildenden Fachkraft für Gesundheit vorsichtig draufgelegt wurden. Ein bekanntes Gesicht schreckte geschätzte zwei Meter vor ihm vom Stuhl auf, begann gleichzeitig tränen aus den Augen kullern zu lassen, schluchzen, aufzustehen, wortlos das Zimmer zu verlassen und dem Verwundeten etwas mehr klimatisierte Luft übrig zu lassen. Er befand sich noch zu sehr im Schockzustand, seine Lippen brannten von den geleerten Flüssigsauerstoff-Flaschen. In grüner und roter Farbe leuchteten Zahlen auf, und obschon er eine leise Ahnung davon hatte, wie diese zu deuten zu sein müssten, war er noch zu benommen, um sie als ernst, oder gar bedrohlich zu empfinden. Der Infusionsschlauch, der von einem Tannenbaum aus aus einem Plastikbehälter durch den Schmetterling direkt in seine Venen Flüssigkeit tropfte, schien zu funktionieren. Allerdings schien alles stetig langsamer zu werden, passend zum Tempo seines Bewusstseins, welches sich unmerklich in etwas aufzulösen schien, wo es selbst gar keinen Zutritt zu haben schien. Er tauchte wieder in die Träume hinein. Nur am Rande des Halbschlafs meinte er noch zu vernehmen, wie eine junge, weibliche Gestalt in hellem Pastellgrün einen Vorhang im Aufwachraum beiseite zu schieben war, und ebendiese passte nicht in seinen sich fortsetzenden Traum.

Vor Tagen nahm der Wahnsinn seinen Lauf. Falsch: Eigentlich vor Jahren. Jahrzehten? Spielt aber keine allzu grosse Rolle. Was eine Rolle spielt, das sind seine Träume, seine sich endlos angestauten, hinziehenden, nicht enden wollenden Träume, die sich nach vier Tagen wie drei Menschenleben anfühlten. Wie lange hatte er sich nicht an seine Träume zu erinnern vermocht? Wann wurde sein Gehirn dermassen betäubt, verstrahlt, ausser Kraft zum Träumen gesetzt. Wann war aus der Nacht Nacht geworden, und aus den Tagen ebenfalls? Er wollte sich diesen Fragen gar nicht stellen - die Fragen stellten sich von selbst. Die schweren Symptome nahmen ihren Lauf. Er träumte davon, wie er aus Tabakresten und Hülsen etwas rauchbaren zu konstruieren versuchte, und immer wieder in die Träume entglitt. Das schäbig eingerichtete Zimmer hinter den fast zur Gänze schwarzen Vorhängen mit Geckomustern, lag verwüstet noch um ihn herum. Der Boden war mit verschiedenen Flüssigkeiten übertränkt, überall Reste von Schlaftabletten-Verpackungen, unbrauchbare Kleinstgegenstände, die keinerlei Funktion und Bedeutung zu haben schienen. Er - Er war inzwischen weiss-Gott-wo, nur nicht da, wo sein Körper gerade lag. Er war in den Bergen, tief eingeschneiten Bergen voller Hindernisse, Gefahren, einsamen Bergen aus einer anscheinend längst gewesenen Zeit. Keine passende Kleidung, durchnässt und an einem Felsen Schutz suchend, noch immer auf der Suche nach der Befriedigung seiner Tabaksucht. Er musste wohl bei den Göttern der Tabakpflanzen mächtig tief in der Kreide stehen. Auf andere Art und Weise wäre dieses persönliche Fiasko nicht ausreichend erklärbar gewesen. Und selbst hier - in diesem sich so real anfühlenden Traum - wollte es nicht klappen. Stattdessen begab er sich weiter auf der Suche nach Zeichen menschlichen Lebens in diesen Einöden aus Weiss und Dunkelgrün, einer wüstenhaften Gegend, deren Lebensfriedlichkeit nicht auf Anhieb anzusehen war. Hier im Traum, da konnte er sich wenigstens den Durst löschen, indem er etwas Schnee auf seinen Lippen zerfliessen liess. Anders als in der Realität - dort hätte er mittlerweile schon Tod sein müssen. Ohne dies gemerkt zu haben. Hinter einem Hügel, etwas weiter unten im Thal, entdeckte er ein paar Lichter in der Ferne, die Sternen in einer klaren Augustnacht glichen. Über Stock und Fels geland es ihm das kleine Alpendorf zu erreichen - ein urchig anmutendes, innerschweizer Dorf, fern von Zivilisation und abseits der modernen Welt.

Es musste Januar gewesen sein. Kurz nach Beginn eines neuen Jahres, noch in vager Erinnerung an Feiertage, die inzwischen keine mehr waren. Mehrmals hatte er sich den Kopf gegen einengende Wände gestossen, oder die Ränder der Badewanne, lief gegen den Einbauschrank, um nur kurz darauf von einer unsichtbaren Kraft zurück auf das schmale Bett zurückgeschleudert zu werden. Mehrfaches Schleudertrauma wäre nicht auszuschliessen gewesen. Dennoch schien etwas im Raum anwesend zu sein, dass ihn nicht im Stich liess. Etwas, was auf ihn lauerte, wartete, etwas wie lebendig gewordene Asche, wissend genug, das aus ihr ein Vogel geboren werden wird. Dann: Der nächste Traum...
there is nothing real outside our perception of reality
Antworten