Wer liebt, fragt nicht nach dem Warum.

Mysteriöse Erfahrungen, Weisheiten, Rätselhaftes.
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Fallen Angel 3
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Registriert: Mi 8. Apr 2009, 23:55

Wer liebt, fragt nicht nach dem Warum.

Beitrag von Fallen Angel 3 »

Sarah Wagenknecht schreibt über die Liebe, ich stell das mal ins Mystik und Aussergewöhnliches, da es aussergewöhnlich mystisch ist, wenn Politiker, die im Deutschen Bundestag sitzen, derartiges schreiben:

Alles! Würde! Anders!

Es scheint ungewöhnlich, vielleicht anmaßend, wenn eine Atheistin und Sozialistin über einen Bibeltext, über das Hohelied der Liebe, schreibt [Anm.: es geht darum, dass eine christliche Homepage gefragt hat, was die Leute über den Korintherbrief denken]. Aber das Thema ist nicht abseitig, es ist hochaktuell und es betrifft die Politik mindestens ebenso wie die Religion und die Privatsphäre. Wer die Liebe anerkennt als das Wichtigste, Schönste und Wertvollste im menschlichen Leben, als etwas, das den Menschen erst zum Menschen macht, der muss gesellschaftliche Verhältnisse mit Unbehagen sehen, in denen das menschliche Zusammenleben mehr und mehr kommerzialisiert und ökonomisiert wird, in denen nur noch zählt, was sich rechnet, und gerade die am wenigsten liebenswürdigen Wesenszüge des Menschen – Habsucht, Egoismus, Gier, Geiz, soziale Ignoranz – am stärksten kultiviert werden.

Wie viel Freiraum hat der liebende Mensch mit seinen Wünschen, Träumen und Sehnsüchten in einer Zeit, in der Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit Standard sind, ständige Verfügbarkeit abverlangt wird, endlose Überstunden Routine und der Zweit- und Drittjob für viele überlebensnotwendig geworden sind? Haben intensive, auf Dauer angelegte soziale Bindungen noch eine Chance in einer Welt, in der sich alles beschleunigt, die Grenzen zwischen realem und virtuellem Austausch verschwimmen, Kommerz und Käuflichkeit Gefühle ersetzen und Zynismus immer mehr zur Normalität wird? Wo Brutalität herrscht, Ausbeutung zunimmt und Hass gepredigt wird, schwindet das Terrain, auf dem Liebe gedeihen kann. Je ungleicher die Gesellschaft, desto stärker zerfällt ihr innerer Zusammenhalt, desto gleichgültiger werden Menschen gegenüber ihren Mitmenschen, weil sie ihre Kraft darauf konzentrieren, sich selbst gegen einen drohenden sozialen Absturz abzusichern.

Liebe. Ein Wort aus einer anderen Welt – wenn auch scheinbar allgegenwärtig. Ohne „Ich liebe dich“ keine Vorabendserie. Ein Werbeslogan wie „McDonald’s – ich liebe es“ wirkt kaum noch bizarr. LG heißt es statt „freundliche Grüße“. Liebe wird zum leeren Füllwort, das Gleichgültigkeit und Kälte überdeckt. Ein Text wie das Hohelied der Liebe in der heutigen Zeit der Facebook-Freundschaften und der Liebesphraseologie? Ein Kontrast, der kaum größer sein könnte. Die Sprache wirkt fremd. Verschlüsselt. Sperrig. Und ist doch von faszinierender Schönheit. Ein Text, der langsam gelesen werden muss. Der rätselhaft bleibt. Und auch damit stimmig ist. Denn nicht anders ist die Liebe.

Liebe ist mehr als die Summe erklärbarer Bestandteile. Und sie bewirkt weit mehr als erklärbar ist. Wer liebt, ist ein anderer als vorher. Er sieht seine Umgebung mit anderen Augen, erlebt die Menschen neu, die Natur, die Gesellschaft, er betrachtet die Welt in anderer Tiefe. Wer Liebe empfindet, tritt aus der eigenen Beschränktheit hinaus, öffnet sich, wird verletzbar. Und ist behutsamer, weil er den anderen mitdenkt.

Es gibt nichts Sinnstiftenderes als die Liebe. Wer liebt, fragt nicht nach dem Warum. Liebe ist. Sie überwindet Grenzen, Ängste, sie überwindet Hoffnungslosigkeit und Schmerz. Deshalb ist das Hohelied der Liebe aktuell. Gerade heute. Es ist der unausgesprochene Vorwurf an eine Zeit, in der die Sinnhaftigkeit ständig infrage steht. In der die Werte sich verschieben und Leben beliebig wird. In der Menschen nach Nützlichkeitskriterien bewertet und Kosten zum allentscheidenden Kriterium werden. In der es ungleich höher honoriert wird, sinnlose Finanzvehikel zu kreieren und damit in Millisekunden Milliardenbeträge zu verschieben, als sich darum zu kümmern, dass alte Menschen liebevoll versorgt werden.

Während die Welt sich immer schneller zu drehen scheint und Hektik alles bestimmt, bleibt einzig die Liebe konstant. So wie sie immer war. Wer liebt, hasst die Schnelllebigkeit, denn Liebe erfordert Zeit. Die Kriterien, die heute sonst gelten, verblassen gegenüber der Liebe. Effizienz? Kurzfristige Rendite? Es geht um das genaue Gegenteil. Darum, sich Zeit zu nehmen. Zeit miteinander zu verbringen. Es geht nicht um Sieg oder Niederlage, nicht darum, die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern das Gemeinsame zu finden. Liebe reflektiert die Sicht des anderen und beschränkt den Egoismus. Sie macht ruhig und strahlt nach außen.

Sind das antiquierte Werte? Wäre die Welt nicht besser, wenn sie solchen Werten wieder näherkäme? Die Liebe, von der im Hohelied die Rede ist, ist weit entfernt von der kitschigen Romantik, die uns in den Medien gerne als Liebe verkauft wird. Es geht nicht um Verklärung, sondern um Wahrhaftigkeit. Um etwas, das größer ist als der Moment.

Die Liebe kommt im Text nicht allein, sondern im Einklang mit Hoffnung und Glauben. Aber während Glaube und Hoffnung vor allem auf die Zukunft oder das Jenseits ausgerichtet sind, ist das bei Liebe nur schwerlich denkbar. Es geht nicht nur darum, zu glauben und zu hoffen, sondern die Kraft zu finden, sich aus einer lieblosen Gegenwart zu befreien. Eine der schönsten Definitionen des Begriffs Sozialismus stammt von dem protestantischen Theologen Paul Tillich. Für ihn war Sozialismus „eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit“.

Im gleichen Sinne schreibt Erich Fromm: „Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen und nicht er ihm?… Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird.“ Das Hohelied der Liebe mahnt uns: Eine Gesellschaft, die die wertvollsten Eigenschaften des Menschen – Liebesfähigkeit, Sehnsucht nach dauerhaften sozialen Bindungen, nach Würde und Schönheit – verkümmern lässt, ist des Menschen nicht würdig. Wir haben eine bessere verdient.

Sahra Wagenknecht ist Stellvertretende Vorsitzende der Partei „Die Linke“ und Erste Stellvertretende Fraktionsvorsitzende.
Das was wir brauchen, das was wir geben - das sind wir.
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