So, liebe Liebenden… Weiter im Kapitel auf Seite 245:
Durch die Entwicklung seiner Fähigkeit zu fühlen kann der Mensch einen Sinnes-Keil bilden und ihn in seine scheinbar konkrete Wirklichkeit treiben. Die Verbundenheit der Dinge weist nicht auf eine Beziehung zwischen diesem und jenem hin, sondern darauf, dass dieses jenes ist. Kann man dies und jedes als Eins wahrnehmen, dann findet die Wahrnehmung zu einem neuen Rhythmus. Von jetzt an wird nämlich Durchdringung möglich, und zwar tatsächlich und nicht bloss faktisch. Man kann natürlich in solch eine Erfahrung hineinrutschen, ohne zu wissen, wohin man da geraten ist. Solche Erfahrungen werfen eine äusserst wichtige Frage auf, die Frage nach der Natur des Chaos.
Zunächst einmal stimmt die Idee, dass die Welt sich aus Dingen zusammensetzt, nur insofern, als der Mensch sie eben so betrachtet. Sieht er aber unverhofft doch einmal, dass sie nicht zusammengesetzt ist, dann interpretiert er diese Erfahrung verständlicherweise als eine Erfahrung des Chaos. Natürlich ist aber dieses Chaos nichts weiter als der vorübergehende Zusammenbruch seiner Ideenkonstruktion von der Welt. Hat er seine Ideenwelt wieder zusammengeflickt, dann fängt er an dummes Zeug zu reden von Übergriffen aus irgendwelchen dunklen Bereichen; diese dunklen Bereiche bestehen nämlich ausschliesslich aus seiner „bewussten“ Blindheit, aus seinen blankpolierten Ideen über alles. Kaum noch vorstellbar, dass man um diese Blindheit herum auch noch eine „Wissenschaft“ aufbaut, die nichts produziert als wissenschaftlich verbrämte Unwissenheit. Aber auch das ist im Grunde verständlich. Wem will man verübeln, dass er sich gegen das Grauen geistiger Zerrüttung zu wappnen versucht? Dass es sich nur um eine eingebildete Bedrohung handelt, weiss ja niemand. Man muss einfach bei Verstand bleiben, um seine Pflichten zu erfüllen, um die wahrgenommene Wirklichkeit in strikter Übereinstimmung mit bestehenden Gesetzen interpretieren zu können, basta! Was diese Verständigkeit zu untergraben scheint, kann daher nur als tiefe Bedrohung erfahren werden, als ein Abgrund, der all die mit viel Schweiss erarbeiteten Errungenschaften der Zivilisation verschlingen wird. Ist etwas mit den bestehenden physikalischen oder psychologischen Gesetzen nicht zu erfassen, dann rührt man besser gar nicht erst daran.
Das Problem besteht nun natürlich darin, dass sehr viele Menschen von Dingen beeinflusst werden, die es nicht geben kann, weil es sie nicht geben darf. Und obgleich die Zeugnisse dafür in vielen Fällen unabweisbar sind, verweigert sich der Intellekt diesen Dingen täglich aufs Neue. Bestenfalls räumt er ein, dass hier wohl ein emotionales Bedürfnis vorliegt, das die Gesellschaft noch nicht befriedigen kann. Aber auch das wird sie gewiss irgendwann können. Die Wissenschaft schreite ja so rasch voran, und sicher wird es gelingen, den Aberglauben, dieses Riesengespenst des Irrationalen, zu besiegen. Daran darf nicht gezweifelt werden.
Aber warum ist das so? Warum beharren die Menschen auf derlei Unsinn? Sind wir nicht die Strasse des Rationalismus weit genug gegangen, dass wir ihn endlich als Gespenst erkennen und zur Ruhe betten können?
Dieses Gespenst erscheint lebendiger als je zuvor, produziert ganze Bibliotheken von metaphysischem Quatsch, um die Mühle des Stumpfsinns in Gang zu halten. Wo kommt das her, und wie kann man es anhalten?
Antwort: Durch das Erkennen zweier zusammengehöriger Tatsachen, nämlich dass das vom Ego konstruierte Weltbild auf der rationalen Ebene falsch ist und das jedes Gedankengebäude, das seine Interpretationen der Welt für wahr hält, fasch sein muss. Wirklichkeit ist im Rahmen des „Verstehens“ nicht mehr als eine Metapher, gebaut auf unseren Glauben, dass unser Verstehen der Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst konstruiert. Der Abgrund ist mit anderen Worten nicht nur der Abgrund des Aberglaubens, sondern Aberglaube und Rationalität sind in ihm gleichermassen zu Hause. Wenn das nicht rechtzeitig erkannt wird, geht die Zivilisation zugrunde, aber aus ganz anderen Gründen als denen, die heute angenommen werden. Es gibt nur eine Möglichkeit, das aufzuhalten: nämlich zu entdecken, was das Fühlen vermag, zu entdecken, dass es möglich ist, einen Keil in die sogenannte Wirklichkeit zu treiben, ohne dass der Verstand in sich zusammenbricht. Wenn das geschieht, werden die beiden Kräfte Aberglaube und Rationalität ein drittes Prinzip hervorbringen, das alles wandelnde Prinzip des unmittelbaren Begreifens. Dies bedeutet einen Umsturz zu einer neuen Psychologie des Selbst, und dieser Umsturz muss vollzogen werden, ob es uns passt oder nicht.