Regen
Verfasst: Fr 30. Dez 2011, 21:27
Worauf es wirklich ankam, wusste niemand so genau. Die einen schauten zu tief ins Glas, als dass sie etwas an der Sache verändern konnten, andere waren zu sehr uneinz, um sich frontal zu stellen. Das Irritierende war, dass es Ausmasse angenommen hatte, die niemand mehr überschauen konnte, und die Wirkung zu verheerend wurde, je länger man zuzusehen verpflichtet war. Und doch kamen allen gewisse Zweifel auf, weil sie weder ihr Tun vor sich verantworten konnten, noch das Tun anderer endgültig verurteilen. Jedenfalls schien eine rasche Lösung des Problems noch lange ausser Sichtweite, weil es zu viele Individuen mit eigenen Sichtweiten gab. Und da war auch dieses Unding namens Gewissen. Ein unnützes Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen, da sich die Welt der Menschheit dahingehend entwickelt hatte, aus dem einen Reih ins andere Glied zu stolpern, ohne dabei zu sehr aufzufallen oder irgendwo zu fest von dem abzuweichen, was die Mehrheit als Norm zu betrachten pflegte.
Inzwischen hatte das Tier Ausmasse angenommen, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Es gab durchaus noch Menschen, die an eine bessere Welt glaubten, doch die waren trotz Überzahl am kürzeren Hebel. Die Anonymität war nirgends länger vorhanden, denn die Information als Solches hat auch eine Kehrseite, nämlich die der Desinformation. Die Brutstätte des Grenzen-, Geschmack- und Morallosen wurde immer öfter dazu missbraucht, es noch grenzen-, geschmack- und moralloser zu machen. Jeder Idiot, der dabei mitmachte, wurde unverhofft zu einem Mitwisser, einem „Zur-Schau-Steller“, einem sich immer mehr verlierenden in den Weiten des WWW.
Es ging dabei nicht primär darum, "Etwas" oder "Jemand" zu sein, was oder wer man nicht ist und war. Nunmehr galt es, das Ganze als eine Art Sucht anzuerkennen, die einen beträchtlichen Teil der eigenen Zeit - und somit des eigenen Lebens - in Anspruch nahm. Dabei wurde von vielen vergessen, gar regelrecht verdrängt, dass sie im Grunde ihr eigenes Leben gegen Voyerismus (auch das Leben anderer) und Datensucht zu ersetzen. Manche waren von der Veranlagung her schon prädestinierte Opfer, weil ihr Filter im Kopf, der Unnützes vom Nützlichen im Normalfall trennte, nicht gewappnet war für die stete Reizüberflutung, der sie sich aussetzten. Sie "sich".
Diejenigen, die eingeweiht waren, waren im Vorteil, weil sie wussten, worauf sie achten mussten. Die restlichen waren entweder auf Bekanntschaften angewiesen, die ihnen dabei halfen, den Schutz aufrecht zu erhalten, oder sie schafften es aus eigener Kraft Grenzen zu setzen. Und manche verloren den Teil ihres Selbst, der von der Masse als Verstand betittelt wurde. Manchmal war nicht ganz eindeutig, ob Diese eher zu beneiden, oder zu bemitleiden waren. In beiden Fällen gab es mehrere Fürs und Widers. Und Beides hätte ihnen weder wirklich geholfen, noch ernsthaft geschadet.
Inzwischen waren sich die Hauptinitiatoren nicht länger einig, ob das, was sie da aus dem Boden gestampft hatten, wirklich das Richtige war. Bei allem Respekt vor dem Aktivismus mussten sie sich eingestehen, dass das System auch Fehler hatte. Und einer der grössten war der Faktor Mensch. Seit dem Börsengang im Jahr 2008 hatte sich so vieles am Internet selbst getan, sodass der oberste Drahtzieher sich durchaus wünschte, er hätte nie eine solche Seite erschaffen. Diejenigen, die dachten, ihre Ip`s seien noch verschlüsselt unterwegs, befanden sich in grossem Irrtum. Vielleicht im grössten ihres Lebens. Die Firmen, die damit ihr täglich Brot verdienten, hatten es nicht ausgelassen, auch an die Enschlüsselungscodes zu denken. Die Umkehrfunktion, sozusagen. Und sie waren stets im Vorteil. Es reichte vollkommen aus, Leute früh genug in solche Firmen einzuschleusen, um sie danach durch Erpressung, Verleumdung oder einfach stets wachsenden Druck von aussen, für eigene Zwecke einzuspannen, weil ihnen keine Wahl übrig blieb. Microsoft und Apple beteiligten sich in etwa zu gleichen Teilen an jeglichen Geschäften, die in Richtung Chips und Software gingen, was jedoch nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, weil es über Tochtergesellschaften oder verbündete Firmen lief.
Da sass er. Er wusste nicht so genau, was von ihm erwartet wurde, wer die Männer waren, die sich für sein Talent so interessierten, und auch nicht, weshalb er ein Jahressalär angeboten bekam, welches dasjenige seines Vaters um ein Vielfaches übertrumpfte. Zwei Männer traten in den Raum ein, wovon einer davon war kein unbeschriebenes Blatt war. In der Szene war er ein Idol, ein Spezialist für ausweglose Situationen, sowas wie Fawkes, ein Rebell sondergleichen, ein Querdenker, einer, der bei den Freimaurern irgendwann an den höchsten Meistergraden herum gekratzt hätte, vorausgesetzt, er wäre einer von ihnen. Der Mann bot ihm einen Sesselplatz- und der Unbekannte Kaffe an, bemerkte aber seinen Irrtum selbst, noch bevor eine Antwort kam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vierzehnjähriger weder Kaffee trank, noch rauchte, war selbst heutzutage nicht sehr hoch. Stattdessen brachte er Orangensaft, Mineralwasser und Kekse. Die Kekse waren dabei eher von symbolischem Charakter, interessierte aber niemanden der Anwesenden wirklich. Was wirklich interessierte, war, ob sie sich einig werden konnten. Einig über den Preis. Den Preis, der einerseits Stillschweigen sondergleichen garantierte, weil vertraglich festgelegt, andererseits die Erwartungen der Arbeitgeber, auch mit keinerlei Daten über die Arbeit zu notieren. Jedenfalls ausserhalb des noch zuzuweisenden Büros.
Nach drei Stunden Gespräch, hin und her zwischen Fangfragen, testähnlichem Vorgehen, Fragen über Vergangenheit und Bekanntenkreis, die woanders erst gar nicht zulässig gewesen wären, bekam er einen 30 Seiten umfassenden Vertrag vorgesetzt. Nicht nur, dass er manche Worte und Zusammenhänge nicht verstand – die Welt der Buchstaben war nie so wirklich die Seine gewesen - er wusste, dass alles klein Geschriebenes war. Er hatte beim Lesen das Gefühl, all das sei nur ausgearbeitet, um ihm möglichst viele Fallen zu stellen. Seine Vorliebe für Zahlen, Programme und deren eigenen Regeln, all die Nadeln in den Heuhaufen, und sich in etwas so verbeissen zu können, bis es gelöst oder geknackt war – deswegen war er hier. Deswegen wollten sie ausgerechnet ihn. Das war ihm bewusst. Es war ihm aber auch bewusst, dass er gezwungen wurde, mitzumachen. Es ging um Leben und Tod. Und für die Welt, wie sie bald werden würde, wenn er durchkam, für weitaus mehr, als er sich vorstellen in der Lage war. Er setzte seine Mischung aus Zahlen und Buchstaben unten links auf das letzte Blatt. Damit war sein Schicksal besiegelt. Für den Fall, dass es das nicht schon war.
Ein paar tausend Kilometer weiter südöstlich prasselte der Regen an die Scheibe des Schrägdachs. Das grösste Zimmer der Attikawohnung war zum DVD-Raum umfunktioniert, direkt an den Serverraum angrenzend, der keine Tür besass. Zwischendurch erhellten unwirkliche Farben die eher spartanisch anmutenden vier Wände, sowie das breite Sofa, auf dem leicht und locker vier erwachsene Personen Platz nehmen konnten. „Ihr Amerikaner habt den Regen schwarz gemacht.“ Bei diesem Satz schien Johnny wie hypnotisiert. In letzter Zeit verschwendete er die meisten seiner Tage damit, sich entweder mit billigem Whiskey abzufüllen, irgendwelche Ego shooter-Spiele fertigzumachen, oder dem Regengeplätscher zuzuhören. Er hatte sich schon länger vom gesellschaftlichem Leben aller Art verabschiedet. Seine Bekannten fragten sich oftmals, weshalb Johnny seit geraumer Zeit nichts mehr mit ihnen abmachen und unternehmen wollte, und am Telefon höchstens wage Auskunft gab. Manche vermuteten, er sei erkrankt, doch niemand getraute sich ihn danach zu fragen. Er hatte genug von der Welt, wie sie war, genug Nachrichten geschaut und Zeitungen gelesen, genug lange Steuern bezahlt, ohne einen Sinn darin zu entdecken.
Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Ihm war, als hätte er gewusst, dass dieser Regen nicht wie die anderen war. Er wollte Kontakt zur Traumweberin aufnehmen. Dieser brach vor einigen Monaten abrupt, weil die Mc Donalds-Filiale sich als unsicher für den Zettelaustausch entpuppt hatte. Jedenfalls war er sich nicht ganz sicher, ob eine Putzfrau zufällig den erwarteten Brief unter dem Lavabo gefunden und entfernt hatte. Vielleicht nicht ohne ihn dem Filialleiter zu zeigen, doch das war nicht das furchterregendste Szenario, das in Frage kam. Vielleicht hatten die gegnerischen Truppen durch Spione von der Sache Wind bekommen. Vielleicht war der Traumweberin auch etwas zugestossen, bevor sie ihre Visionen auf Papier gebracht hatte. In jedem Fall war die Sache nicht zu unterschätzen. Er beschloss, sich auf die Suche zu machen. Er wusste nur, wen er nach ihr fragen konnte. Doch wem konnte er noch wirklich trauen. Die Welt war so oder so schon ein verrückter Haufen Chaos, ein undurchdringbarer Dschungel aus Normalos, Verschwörern oder einer Mischung der beiden Zustände. Er zog an der Schublade im Wohnzimmer, nahm die noch nicht geladene 92-er Beretta sowie zwei Magazine an sich, Dinge, die er von seinem Grossvater geerbt hatte, bevor er regelrecht aus der Wohnung stürmte. Es wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen, hätte er sich eingestanden, dass er keinen Plan hatte, wen er als erstes aufsuchen sollte. Von den meisten, die er hätte ausfragen können, hatte es sowieso weder Nummer, noch Adresse.
Der erste Arbeitstag verlief sang- und klanglos. In der Firma schienen nur Freaks ihr Unwesen zu treiben, was irgendwie zum guten Ton zu gehören schien. Der schon zu genüge verwirrte Junge sah sich inmitten einer als eine Art Zentrale fungierenden Ansammlung von breiten Bürotischen und ungewohnt grossen Bildschirmen darauf gezwungen, sich zu unters einzugliedern. Er versuchte in der Pause ein paar jüngeren Mitarbeitern ein paar Worte zu entlocken, wurde aber bloss schief angeschaut. „Das muss also der neue sein.“ -sagte einer von ihnen wohl mehr zu sich selbst, nachdem sich die anderen verzogen hatten. Sein Gesicht war mit Pickeln in unterschiedlichsten Farben und Formen übersät, und sah nicht gerade wie ein Genie aus, was in diesem Laden irgendwie gar nicht überraschte. Sein heller Taint war zudem übersät von Sommersprossen, die sich regelrecht um die besten Plätze abzumühen versuchten. Er selbst wirkte vermutlich noch etwas jünger, als er auf die Aussenwelt wirkte.
„Ich bin Mitch“- sagte der junge Mann. In seinem Tonfall schwang etwas menschliches mit, vermutlich zum ersten Mal seit Tagen das einzig solche, was William zu Ohren kam. Die Beiden schlenderten entlang einiger Tischreihen, die irgendwie in einem System aufgestellt waren, welches aber niemand auf den ersten Blick erkennen konnte. Vorbei an Schlipsträgern und in unmögliche Freizeitklamotten eingehüllten jungen Männern, vorbei an Sekretärinnen und einem Sicherheitsmann, Vorbei an den Pflanzen, die etwas dschungelhaft anmuteten, an allem vorbei, nahmen sie am hintersten Tisch platz. Draussen sah es nach nahendem Sturm aus, an manchen Stellen des Himmels hatten sich düsterere Regionen gebildet, eingebettet in ein durch und durch fahles Grau, doch das störte im vollklimatisierten Büro anscheinend niemanden. Die Kantine befand sich im achten Stockwerk des modernen Gebäudes, was einen eher spärlichen Blick auf die Umgebung zuliess, was an den höheren Gebäuden im Umfeld lag. Weiter unten gab es nur wenige grüne Stellen zwischen den Hochhäusern und Pflastergestein.
„Wie lange bist du schon hier?“-fragte Will. „Drei Jahre. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag hier. Es war Sommer. Mir kam der Tag wie eine Ewigkeit vor. Danach verging die Zeit wie im Flug.“ Das Eis schien definitiv gebrochen und Mitch schien nicht verschlossen, im Gegenteil: Er genoss sichtlich, mit jemandem reden zu können. „Ich arbeite oft in der Nacht. Manchmal bis zu 14 Stunden. Dann sind weniger Leute da und der Mann vom Sicherheitsdienst schaut bloss fern.“- da grinste er. „Tagsüber wird man zwar auch in Ruhe gelassen, ich bin es aber gewohnt, bis spät in den Morgengrauen vor dem Bildschirm zu sitzen. Nur das mir früher keiner etwas dafür bezahlt hatte.“ Mitch entpuppte sich als ein offener, sympathischer Zeitgenosse. Er erzählte von dem, was er hier machte, sie Beide wechselten von einem Gesprächsthema zum nächsten, bis Mitch`s Blick auf der Personalkarte seines Gegenübers hängen blieb: „Sag mal, Will, weshalb hast du das Orange Ticket?“ Will hatte keine Ahnung, was die Farbe zu bedeuten hatte. Ihm war zwar nicht entgangen, dass nicht alle Firmenausweise dieselbe Farbe aufwiesen, er hätte sich aber nicht getraut, jemanden mit einer solchen Frage zu belästigen. „Ich weiss nicht. Hab nur den bekommen.“ Sein Blick wanderte auf die linke Seite seiner Brust und blieb bei den verkehrt scheinenden Buchstaben seines Namens. Hat die Farbe etwas zu bedeuten?“ Die Frage war rhetorisch gemeint. „Klaro!“ schien Mitch staunend zu erwidern, „Du hast mit Orange überall zutritt. Ausser auf der Neunzehnten. Du darfst sogar in den Serverraum. Das dürfen hier nicht viele. Und du weisst nicht, warum du als Neuling fast zuoberst einsteigen darfst?“ „Nein. Vermutlich wurde versäumt, es mir mitzuteilen.“ Mitch konnte das fast nicht glauben, obwohl; dies war durchaus nicht das Erste und Einzige, was er in diesem Laden nicht so recht glauben konnte. Mittlerweile stellte er eher alles irgendwie in Frage.
Inzwischen hatte das Tier Ausmasse angenommen, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Es gab durchaus noch Menschen, die an eine bessere Welt glaubten, doch die waren trotz Überzahl am kürzeren Hebel. Die Anonymität war nirgends länger vorhanden, denn die Information als Solches hat auch eine Kehrseite, nämlich die der Desinformation. Die Brutstätte des Grenzen-, Geschmack- und Morallosen wurde immer öfter dazu missbraucht, es noch grenzen-, geschmack- und moralloser zu machen. Jeder Idiot, der dabei mitmachte, wurde unverhofft zu einem Mitwisser, einem „Zur-Schau-Steller“, einem sich immer mehr verlierenden in den Weiten des WWW.
Es ging dabei nicht primär darum, "Etwas" oder "Jemand" zu sein, was oder wer man nicht ist und war. Nunmehr galt es, das Ganze als eine Art Sucht anzuerkennen, die einen beträchtlichen Teil der eigenen Zeit - und somit des eigenen Lebens - in Anspruch nahm. Dabei wurde von vielen vergessen, gar regelrecht verdrängt, dass sie im Grunde ihr eigenes Leben gegen Voyerismus (auch das Leben anderer) und Datensucht zu ersetzen. Manche waren von der Veranlagung her schon prädestinierte Opfer, weil ihr Filter im Kopf, der Unnützes vom Nützlichen im Normalfall trennte, nicht gewappnet war für die stete Reizüberflutung, der sie sich aussetzten. Sie "sich".
Diejenigen, die eingeweiht waren, waren im Vorteil, weil sie wussten, worauf sie achten mussten. Die restlichen waren entweder auf Bekanntschaften angewiesen, die ihnen dabei halfen, den Schutz aufrecht zu erhalten, oder sie schafften es aus eigener Kraft Grenzen zu setzen. Und manche verloren den Teil ihres Selbst, der von der Masse als Verstand betittelt wurde. Manchmal war nicht ganz eindeutig, ob Diese eher zu beneiden, oder zu bemitleiden waren. In beiden Fällen gab es mehrere Fürs und Widers. Und Beides hätte ihnen weder wirklich geholfen, noch ernsthaft geschadet.
Inzwischen waren sich die Hauptinitiatoren nicht länger einig, ob das, was sie da aus dem Boden gestampft hatten, wirklich das Richtige war. Bei allem Respekt vor dem Aktivismus mussten sie sich eingestehen, dass das System auch Fehler hatte. Und einer der grössten war der Faktor Mensch. Seit dem Börsengang im Jahr 2008 hatte sich so vieles am Internet selbst getan, sodass der oberste Drahtzieher sich durchaus wünschte, er hätte nie eine solche Seite erschaffen. Diejenigen, die dachten, ihre Ip`s seien noch verschlüsselt unterwegs, befanden sich in grossem Irrtum. Vielleicht im grössten ihres Lebens. Die Firmen, die damit ihr täglich Brot verdienten, hatten es nicht ausgelassen, auch an die Enschlüsselungscodes zu denken. Die Umkehrfunktion, sozusagen. Und sie waren stets im Vorteil. Es reichte vollkommen aus, Leute früh genug in solche Firmen einzuschleusen, um sie danach durch Erpressung, Verleumdung oder einfach stets wachsenden Druck von aussen, für eigene Zwecke einzuspannen, weil ihnen keine Wahl übrig blieb. Microsoft und Apple beteiligten sich in etwa zu gleichen Teilen an jeglichen Geschäften, die in Richtung Chips und Software gingen, was jedoch nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, weil es über Tochtergesellschaften oder verbündete Firmen lief.
Da sass er. Er wusste nicht so genau, was von ihm erwartet wurde, wer die Männer waren, die sich für sein Talent so interessierten, und auch nicht, weshalb er ein Jahressalär angeboten bekam, welches dasjenige seines Vaters um ein Vielfaches übertrumpfte. Zwei Männer traten in den Raum ein, wovon einer davon war kein unbeschriebenes Blatt war. In der Szene war er ein Idol, ein Spezialist für ausweglose Situationen, sowas wie Fawkes, ein Rebell sondergleichen, ein Querdenker, einer, der bei den Freimaurern irgendwann an den höchsten Meistergraden herum gekratzt hätte, vorausgesetzt, er wäre einer von ihnen. Der Mann bot ihm einen Sesselplatz- und der Unbekannte Kaffe an, bemerkte aber seinen Irrtum selbst, noch bevor eine Antwort kam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Vierzehnjähriger weder Kaffee trank, noch rauchte, war selbst heutzutage nicht sehr hoch. Stattdessen brachte er Orangensaft, Mineralwasser und Kekse. Die Kekse waren dabei eher von symbolischem Charakter, interessierte aber niemanden der Anwesenden wirklich. Was wirklich interessierte, war, ob sie sich einig werden konnten. Einig über den Preis. Den Preis, der einerseits Stillschweigen sondergleichen garantierte, weil vertraglich festgelegt, andererseits die Erwartungen der Arbeitgeber, auch mit keinerlei Daten über die Arbeit zu notieren. Jedenfalls ausserhalb des noch zuzuweisenden Büros.
Nach drei Stunden Gespräch, hin und her zwischen Fangfragen, testähnlichem Vorgehen, Fragen über Vergangenheit und Bekanntenkreis, die woanders erst gar nicht zulässig gewesen wären, bekam er einen 30 Seiten umfassenden Vertrag vorgesetzt. Nicht nur, dass er manche Worte und Zusammenhänge nicht verstand – die Welt der Buchstaben war nie so wirklich die Seine gewesen - er wusste, dass alles klein Geschriebenes war. Er hatte beim Lesen das Gefühl, all das sei nur ausgearbeitet, um ihm möglichst viele Fallen zu stellen. Seine Vorliebe für Zahlen, Programme und deren eigenen Regeln, all die Nadeln in den Heuhaufen, und sich in etwas so verbeissen zu können, bis es gelöst oder geknackt war – deswegen war er hier. Deswegen wollten sie ausgerechnet ihn. Das war ihm bewusst. Es war ihm aber auch bewusst, dass er gezwungen wurde, mitzumachen. Es ging um Leben und Tod. Und für die Welt, wie sie bald werden würde, wenn er durchkam, für weitaus mehr, als er sich vorstellen in der Lage war. Er setzte seine Mischung aus Zahlen und Buchstaben unten links auf das letzte Blatt. Damit war sein Schicksal besiegelt. Für den Fall, dass es das nicht schon war.
Ein paar tausend Kilometer weiter südöstlich prasselte der Regen an die Scheibe des Schrägdachs. Das grösste Zimmer der Attikawohnung war zum DVD-Raum umfunktioniert, direkt an den Serverraum angrenzend, der keine Tür besass. Zwischendurch erhellten unwirkliche Farben die eher spartanisch anmutenden vier Wände, sowie das breite Sofa, auf dem leicht und locker vier erwachsene Personen Platz nehmen konnten. „Ihr Amerikaner habt den Regen schwarz gemacht.“ Bei diesem Satz schien Johnny wie hypnotisiert. In letzter Zeit verschwendete er die meisten seiner Tage damit, sich entweder mit billigem Whiskey abzufüllen, irgendwelche Ego shooter-Spiele fertigzumachen, oder dem Regengeplätscher zuzuhören. Er hatte sich schon länger vom gesellschaftlichem Leben aller Art verabschiedet. Seine Bekannten fragten sich oftmals, weshalb Johnny seit geraumer Zeit nichts mehr mit ihnen abmachen und unternehmen wollte, und am Telefon höchstens wage Auskunft gab. Manche vermuteten, er sei erkrankt, doch niemand getraute sich ihn danach zu fragen. Er hatte genug von der Welt, wie sie war, genug Nachrichten geschaut und Zeitungen gelesen, genug lange Steuern bezahlt, ohne einen Sinn darin zu entdecken.
Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Ihm war, als hätte er gewusst, dass dieser Regen nicht wie die anderen war. Er wollte Kontakt zur Traumweberin aufnehmen. Dieser brach vor einigen Monaten abrupt, weil die Mc Donalds-Filiale sich als unsicher für den Zettelaustausch entpuppt hatte. Jedenfalls war er sich nicht ganz sicher, ob eine Putzfrau zufällig den erwarteten Brief unter dem Lavabo gefunden und entfernt hatte. Vielleicht nicht ohne ihn dem Filialleiter zu zeigen, doch das war nicht das furchterregendste Szenario, das in Frage kam. Vielleicht hatten die gegnerischen Truppen durch Spione von der Sache Wind bekommen. Vielleicht war der Traumweberin auch etwas zugestossen, bevor sie ihre Visionen auf Papier gebracht hatte. In jedem Fall war die Sache nicht zu unterschätzen. Er beschloss, sich auf die Suche zu machen. Er wusste nur, wen er nach ihr fragen konnte. Doch wem konnte er noch wirklich trauen. Die Welt war so oder so schon ein verrückter Haufen Chaos, ein undurchdringbarer Dschungel aus Normalos, Verschwörern oder einer Mischung der beiden Zustände. Er zog an der Schublade im Wohnzimmer, nahm die noch nicht geladene 92-er Beretta sowie zwei Magazine an sich, Dinge, die er von seinem Grossvater geerbt hatte, bevor er regelrecht aus der Wohnung stürmte. Es wäre ein Zeichen der Schwäche gewesen, hätte er sich eingestanden, dass er keinen Plan hatte, wen er als erstes aufsuchen sollte. Von den meisten, die er hätte ausfragen können, hatte es sowieso weder Nummer, noch Adresse.
Der erste Arbeitstag verlief sang- und klanglos. In der Firma schienen nur Freaks ihr Unwesen zu treiben, was irgendwie zum guten Ton zu gehören schien. Der schon zu genüge verwirrte Junge sah sich inmitten einer als eine Art Zentrale fungierenden Ansammlung von breiten Bürotischen und ungewohnt grossen Bildschirmen darauf gezwungen, sich zu unters einzugliedern. Er versuchte in der Pause ein paar jüngeren Mitarbeitern ein paar Worte zu entlocken, wurde aber bloss schief angeschaut. „Das muss also der neue sein.“ -sagte einer von ihnen wohl mehr zu sich selbst, nachdem sich die anderen verzogen hatten. Sein Gesicht war mit Pickeln in unterschiedlichsten Farben und Formen übersät, und sah nicht gerade wie ein Genie aus, was in diesem Laden irgendwie gar nicht überraschte. Sein heller Taint war zudem übersät von Sommersprossen, die sich regelrecht um die besten Plätze abzumühen versuchten. Er selbst wirkte vermutlich noch etwas jünger, als er auf die Aussenwelt wirkte.
„Ich bin Mitch“- sagte der junge Mann. In seinem Tonfall schwang etwas menschliches mit, vermutlich zum ersten Mal seit Tagen das einzig solche, was William zu Ohren kam. Die Beiden schlenderten entlang einiger Tischreihen, die irgendwie in einem System aufgestellt waren, welches aber niemand auf den ersten Blick erkennen konnte. Vorbei an Schlipsträgern und in unmögliche Freizeitklamotten eingehüllten jungen Männern, vorbei an Sekretärinnen und einem Sicherheitsmann, Vorbei an den Pflanzen, die etwas dschungelhaft anmuteten, an allem vorbei, nahmen sie am hintersten Tisch platz. Draussen sah es nach nahendem Sturm aus, an manchen Stellen des Himmels hatten sich düsterere Regionen gebildet, eingebettet in ein durch und durch fahles Grau, doch das störte im vollklimatisierten Büro anscheinend niemanden. Die Kantine befand sich im achten Stockwerk des modernen Gebäudes, was einen eher spärlichen Blick auf die Umgebung zuliess, was an den höheren Gebäuden im Umfeld lag. Weiter unten gab es nur wenige grüne Stellen zwischen den Hochhäusern und Pflastergestein.
„Wie lange bist du schon hier?“-fragte Will. „Drei Jahre. Ich erinnere mich an meinen ersten Tag hier. Es war Sommer. Mir kam der Tag wie eine Ewigkeit vor. Danach verging die Zeit wie im Flug.“ Das Eis schien definitiv gebrochen und Mitch schien nicht verschlossen, im Gegenteil: Er genoss sichtlich, mit jemandem reden zu können. „Ich arbeite oft in der Nacht. Manchmal bis zu 14 Stunden. Dann sind weniger Leute da und der Mann vom Sicherheitsdienst schaut bloss fern.“- da grinste er. „Tagsüber wird man zwar auch in Ruhe gelassen, ich bin es aber gewohnt, bis spät in den Morgengrauen vor dem Bildschirm zu sitzen. Nur das mir früher keiner etwas dafür bezahlt hatte.“ Mitch entpuppte sich als ein offener, sympathischer Zeitgenosse. Er erzählte von dem, was er hier machte, sie Beide wechselten von einem Gesprächsthema zum nächsten, bis Mitch`s Blick auf der Personalkarte seines Gegenübers hängen blieb: „Sag mal, Will, weshalb hast du das Orange Ticket?“ Will hatte keine Ahnung, was die Farbe zu bedeuten hatte. Ihm war zwar nicht entgangen, dass nicht alle Firmenausweise dieselbe Farbe aufwiesen, er hätte sich aber nicht getraut, jemanden mit einer solchen Frage zu belästigen. „Ich weiss nicht. Hab nur den bekommen.“ Sein Blick wanderte auf die linke Seite seiner Brust und blieb bei den verkehrt scheinenden Buchstaben seines Namens. Hat die Farbe etwas zu bedeuten?“ Die Frage war rhetorisch gemeint. „Klaro!“ schien Mitch staunend zu erwidern, „Du hast mit Orange überall zutritt. Ausser auf der Neunzehnten. Du darfst sogar in den Serverraum. Das dürfen hier nicht viele. Und du weisst nicht, warum du als Neuling fast zuoberst einsteigen darfst?“ „Nein. Vermutlich wurde versäumt, es mir mitzuteilen.“ Mitch konnte das fast nicht glauben, obwohl; dies war durchaus nicht das Erste und Einzige, was er in diesem Laden nicht so recht glauben konnte. Mittlerweile stellte er eher alles irgendwie in Frage.